Das Motto des diesjährigen Festivals »Bach for Future« verweist ebenso auf die Modernität und anspruchsvolle Komplexität von Bachs Musik bereits zu seinen Lebzeiten wie auf das zu bewahrende und menschenverbindende Element dieser Musik, welche jährlich Besucher aus aller Welt zum Bachfest nach Leipzig zieht. Die Leipziger Bach-Tradition beginnt mit dem folgenreichen Amtsantritt des Thomaskantors am ersten Sonntag nach Trinitatis vor 300 Jahren. Dieses Jubiläum steht mit zahlreichen Werken, die Bach in seinem ersten Dienstjahr komponierte, im Zentrum des Bachfestes 2023.
Zur Eröffnung des Bachfestes in der Thomaskirche erklangen gestern Abend Präludium und Fuge in Es-Dur BWV 552, interpretiert von Thomasorganist Johannes Lang. Das groß angelegte, im feierlichen französischen Ouvertüren-Stil einsetzende und vielgestaltige Werk war in seiner transparenten Darbietung die perfekte Einstimmung auf das kommende Fest mit seinen über 160 Veranstaltungen an über 30 Orten in und um Leipzig. Die Begrüßung durch Kulturbügermeisterin Skadi Jennicke widmete sich ebenso wie die Laudatio des Bachfest-Intendanten Michael Maul diesmal insbesondere dem Thomanerchor. Er ist untrennbar verbunden mit Bachs Wirken in Leipzig und der seither bestehenden Bach-Tradition der Stadt. Etwa 7000 Thomaner schätzt Michael Maul, hätten in den letzten 300 Jahren ihre Jugend im Zeichen von Bachs Musik verbracht. Die diesjährige Auszeichnung des Chores mit der Bach-Medaille der Stadt Leipzig richtet sich dabei an alle aktiven und ehemaligen Thomaner.
Mit eindrucksvollen Dankesworten erinnerte der älteste noch lebende ehemalige Thomaner, Claus Jürgen Wizisla, Jahrgang 1931, aktives Mitglied des Thomanerchores von 1942-1949, an die Nacht des Feuersturms, den 4. Dezember 1943. Er selbst war damals als einer von drei Thomanern durch die Stadt gelaufen, um zu sehen, ob die Thomaskirche noch stand. Die Kirche diente unmittelbar darauf als Unterkunft für Menschen, die bei den Bombenangriffen auf Leipzig alles verloren hatten. In seiner Rede betonte Wizisla den Stolz auf die ungebrochene Tradition der Bachpflege und die Tatsache, dass es nicht gelungen sei, diese durch verschiedene Gesellschaftssysteme für politische Interessen zu vereinnahmen.
War es auch anspruchsvoll für Musiker und lauschende Gemeinde, für Bach selbst gehörten Uraufführungen seiner eigenen Werke zum Tagesgeschäft. In diesem Sinne erklangen auch am gestrigen Abend neben Bachs Kantate BWV 75, »Die Elenden sollen essen« eine Bearbeitung und eine Neukomposition in Verbindung mit Bachs Schaffen.
»So einen Chor haben wir in Wien nicht«, soll Mozart gesagt haben, als er 1789 die Thomaner hörte. Ihr glanzvoll virtuoses Paradestück, »Singet dem Herrn ein neues Lied« BWV 225 soll ihn so beeindruckt haben, dass er sich eine Abschrift erbat und selbst eine orchestrale Bearbeitung der a-cappella Motette in Erwägung zog. Dazu kam es jedoch nicht.
Uraufgeführt wurde gestern stattdessen eine Auftragsarbeit. Mit der Bearbeitung der Bach -Motette »im Stile Mozarts« wurde Thomas W. Leininger, Jahrgang 1981 betraut. Die Motette für 2 Chöre blieb dabei im Vokalteil unangetastet, wurde lediglich sinfonisch »ummantelt«. Vorangestellt wurde dem Stück eine instrumentale Einleitung, die sich jedoch in typischen mozartischen Stil-Floskeln erschöpfte, ohne dabei eigenständige oder tragende musikalische Gedanken zu entwickeln. Immer auffälliger wurde bei Bach-Festen der letzten Jahre das Bedürfnis der Veranstalter nach Innovation und aufsehenerregenden Musik-Formaten. Im Sinne des diesjährigen Mottos »Bach for Future« hätte man diesen zum Scheitern verurteilten musikalischen Bearbeitungsauftrag, Bach im Stile Mozarts verbessern zu wollen, dann doch lieber gleich von einer KI erledigen lassen können.
Die interessantere Uraufführung des Abends war die Kantate von Jörg Widmann für Soli, Chor, Orgel und Orchester. Widmann generierte seine üppige, in der Form sehr freie Komposition auf Basis einer eigenen, hochexpressiven Textzusammenstellung, welche Bibelstellen ebenso wie Brecht, Bonhoeffer und Paul Gerhardt einschloss. Thematisch kreiste die Textauswahl um Krieg, Glaubenszweifel, aber auch um die Notwendigkeit von Utopien und damit die Bejahung des Glaubens und des Lebens. Zum ergreifenden emotionalen Höhepunkt innerhalb der Kantate wurde insbesondere die hochexpressive Vertonung eines Textes von Jean Paul, der sich in einer Traum-Vision mit der erschreckenden Abwesenheit von Gott beschäftigt. Widmann entwickelte ausgehend von einer stillen Meditation für Solo-Bassklarinette und Glocken ein üppiges, überbordendes musikalisches Universum, dass auch die typischen Teile einer Bach-Kantate, darunter Choräle ebenso wie Soli und Instrumentalpassagen, einschließt. Dabei streifte er formal wie klanglich, in harmonischen Verläufen und satztechnisch immer wieder Bachs Welt, ließ Chor und Orchester aber auch mit schriller Dissonanz zu äußerster Opulenz auffahren oder in Situationen verlorener Einsamkeit einiger Instrumental-Soli stürzen. Das Werk war aufrührend und verstörend genug, um für einige Konzertflüchtige zu sorgen. Auf der anderen Seite stand der wohlverdiente Applaus für die eindrucksvolle Interpretation durch Thomanerchor, Solisten und das Gewandhausorchester unter Leitung von Thomaskantor Andreas Reize.
Am heutigen Abend lädt das Bachfest ab 19 Uhr auf den Marktplatz zur open Stage »Tribute tob Bach« ein. Hier verneigen sich Klassik-Stars mit den bekanntesten und beliebtesten Werken von Bach vor dem Thomaskantor. Unter den Interpreten befinden sich Lang Lang, Daniel Hope und das Gewandhausorchester sowie der Thomanerchor mit seinem Thomaskantor Andreas Reize. Das kostenpflichtige Konzert wird live übertragen: im deutsch-französisch-sprachigen Europa von ARTE Concert auf arte.tv/concert und weltweit auf STAGE+, dem neuen Streaming Service von Deutsche Grammophon, auf stage.plus/Bach300.
Foto: Jens Schlüter.