Unsere E-Musikredakteurin Anja Kleinmichel blickt zurück auf den 2023er Jahrgang des Leipziger Bachfests.
Traditionell endete mit der Messe in h-Moll von Johann Sebastian Bach am Sonntagabend das Leipziger Bachfest. Interpreten waren Masaaki Suzuki mit dem Bach-Collegium Japan, Musiker, die dem Bachfest seit Jahren verbunden sind.
Extrem breit gefächert waren die musikalischen Angebote des Festivals in diesem Jahr, in dem Bachs Amtsantritt als Thomaskantor in Leipzig vor 300 Jahren im Fokus stand. Im Programm mit 160 Veranstaltungen befanden sich das Best-of jener Kantaten, die Bach in seinem ersten Leipziger Jahr schrieb, ein Knabenchor-Gipfeltreffen sowie Solisten und Ensembles aus aller Welt. Über 70.000 Gäste wurden auf den Veranstaltungen in den großen Kirchen der Stadt, aber auch im im Hauptbahnhof, im Anatomie-Hörsaal der Uni und auf dem Marktplatz gezählt.
Auffällig war die inhaltliche und stilistische Vielfalt des Festivals. Gerade im kammermusikalischen Bereich kamen auch viele Zeitgenossen Bachs zu Gehör, darunter Georg Philipp Telemann, Christoph Graupner und Johann Friedrich Fasch, Bachs Konkurrenten bei der Bewerbung um die Stelle des Thomaskantors. Der »kreative Umgang« mit Bachs Musik schloss viele Neu-Zusammenstellungen von Werkausschnitten ein, andernorts wurden Kompositionen im Sinne des barocken Parodieverfahrens zu Trägern neuer Textinhalte. Auf diese Weise entstand beispielsweise ein Requiem, »Et Lux« (Pasticcio aus Kantatensätzen von J. S. Bach) mit neuen Texten von Thomas Kunst.
Am historischen Originalklang orientierte Aufführungsformate standen neben jeder Menge Adaptionen und Bearbeitungen von der Romantik bis zur Gegenwart. Unmöglich war es, alle Konzerte des Bachfestes zu besuchen, von denen viele zeitgleich bis in die späten Abendstunden hinein stattfanden.
Innerhalb der Breite des Angebots zeichneten sich musikalisch hochkarätige Formate um so deutlicher ab. Zugeständnisse auf inhaltlicher, dramaturgischer und musikalischer Ebene –auch im Sinne verkaufsstrategischer Notwendigkeit – wirkten generell eher befremdlich: Letztendlich eignet sich Bachs Musik nicht für ein Medley wie das Gala-Konzert »Tribute to Bach« auf dem Marktplatz.
Ein Konzert der Extraklasse war die Aufführung der Matthäuspassion BWV 244 am 12. Juni in der Nikolaikirche durch das englische Vokal- und Instrumentalensemble Solomon’s Knot. Mit Unmittelbarkeit und Konzentration sowie hochkarätigen sängerischen Darbietungen sprengte das Konzert den gewohnten genretypischen Aufführungsrahmen. Zum Selbstverständnis des ohne Dirigenten arbeitenden Barock-Ensembles gehört es, mittels dezenter Inszenierung, die auf Blicken, Personen-Aufstellungen und kammermusikalischer Interaktion beruht, Werke wie diese Passionsgeschichte mit opernhaften Zügen anzulegen und dadurch einen unerhörten Grad an Lebendigkeit zu erzielen. Die dazu nötige Freiheit gewinnen die hervorragenden Instrumental- und Gesangssolisten und -solistinnen, indem sie auch ein so umfangreiches Werk komplett auswendig vortragen. Auf diese Weise gelang es Solomon’s Knot auch bei diesem Gastspiel, das Publikum regelrecht in die Aufführung hineinzusaugen.
Zu den herausragenden Musik-Ereignissen der letzten elf Tage gehören ohne Zweifel ebenso die Konzerte mit Lang Lang und dem Gewandhausorchester unter Leitung von Andris Nelsons im Gewandhaus. Der Ausnahmepianist entgrenzte mit seiner Darbietung des hoch anspruchsvollen zweiten Klavierkonzerts von Saint Saëns den Begriff des Pianistentums. Seine unvergleichliche Virtuosität schien lediglich Mittel zum Zweck, die Architektonik und den Sinn des Werkes in völliger Schlüssigkeit darzustellen. Lang Lang nutzte das Klavier als Instrument, um enorme Klanggewalten zu entfachen sowie um nahezu magisch entrückte Szenen zu beschwören, mit denen er das Orchester jeweils zur konkreten Interaktion herausforderte. Umrahmt wurde das Ganze von Bach-Transkriptionen des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts von Mahler, Reger und Elgar. All dies Werke, deren Auswahl die Frage nach einem dramaturgischen Warum aufwarfen. Das heute teils befremdliche Bach-Bild der Romantik könnte dennoch interessant sein, würde es mit etwas mehr historisch informierter Überzeugungskraft vorgetragen.
Ein kontrapunktisches Erfrischungsbad inmitten der zumeist barocken Bachfest-Welt boten auch in dieser Saison die Konzerte im Grassimuseum und die Musica nova im Gewandhaus. Steffen Schleiermacher und Mitglieder des Ensemble Avantgarde interpretierten Kompositionen, die diesmal thematisch um Literatur, Malerei und Komponisten der Moderne kreisten. Gespickt mit doppelbödigem Humor und dem Gespür für spannende Kontexte führte der Leipziger Komponist und Pianist Schleiermacher durch die drei Konzerte und begeisterte auch pianistisch mit seinem untrüglichen Geschick in der Darstellung mehrschichtiger Texturen zeitgenössischer Kompositionen und seiner überzeugenden Darbietung größtenteils unbekannten Repertoires von Romantik bis zur Gegenwart.
Das nächste Bachfest findet vom 7. bis 16. Juni 2024 unter dem Motto: »Choral total« statt und feiert gleich drei Jubiläen: 500 Jahre Luther-Choräle, 300 Jahre Choralkantatenzyklus Johann Sebastian Bachs und 25 Jahre Bachfest Leipzig.
(Text)
Titelbild: Jens Schlüter