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Stadtleben

Freispruch für die Letzte Generation

Nach zwei Gerichtstagen urteilt die Richterin, dass die Sitzblockade vom 13. Juni 2022 von der Versammlungsfreiheit geschützt ist.

  Freispruch für die Letzte Generation | Nach zwei Gerichtstagen urteilt die Richterin, dass die Sitzblockade vom 13. Juni 2022 von der Versammlungsfreiheit geschützt ist.

Die Stimmung im Saal ist zum ersten Prozesstag am 29. Juni entspannt. Freunde, Familie und Unterstützerinnen aus der eigenen Gruppe sind im Publikum anwesend. Anlass für den Prozess ist eine Sitzblockade vom 13. Juni 2022. Um sieben Uhr morgens überquerten fünf Aktivisten der Letzten Generation den Fußgängerüberweg des Georgiring in Höhe der jungen Oper. Zwei von ihnen klebten ihre Hand auf die Fahrbahn, drei weitere saßen verteilt auf beiden Spuren. Vor ihnen ein Transparent mit der Aufschrift »Stoppt den fossilen Wahnsinn«. Damit war die Weiterfahrt des Berufsverkehrs gehindert. Nach wenigen Minuten trafen Polizeibeamte ein. Sie lösten und trugen die Aktivisten von der Straße.

Die Staatsanwältin eröffnet den Prozess mit der Verlesung der Anklageschrift. Die Sitzblockade sei Nötigung gewesen. Daraufhin dürfen sich die fünf Angeklagten äußern. Während sie von ihrer Angst vor dem Klimawandel erzählen, Studien vorlesen und Wissenschaftler zitieren, schlucken sie schwer, wischen sich ein paar Tränen weg. Der 26-jährige Student und zukünftige Lehrer Leon M. sehe es in seiner moralischen Verantwortung für die kommenden Generationen einzustehen. »Ich saß auf der Straße, weil ich bald Lehrer bin, der in den nächsten 40 Jahren täglich mit Kindern arbeiten wird und dabei mitverantwortet, in welcher Welt sie leben«, sagt Leon M. Er unterliege als Lehrer der Fürsorgepflicht, die er mit seinem Protest einhalten wolle. »Schulkinder vor Schäden in Gesundheit und Vermögen, wie auch vor Verletzung anderer grundrechtlich geschützter Güter zu bewahren, ist meine Aufgabe«, so Leon M. Weiter betonen die Aktivisten, dass ihre Proteste stets friedlich seien und es ihnen leidtäte, wenn durch ihre Blockaden negative Auswirkungen für andere Menschen entstünden. Bei den Aussagen wird vereinzelt geklatscht. Die Richterin ermahnt das Publikum. Zukünftig wird die Zustimmung nur noch in Gebärde ausgedrückt.

Es folgen die Zeugenaussagen. Dabei soll die Dauer der Blockade und die Beeinträchtigung für die Verkehrsteilnehmer überprüft werden. Nach Polizeiangaben soll der Stau auf der rechten Spur des Georgiring, in Fahrtrichtung Augustusplatz, etwa eine Stunde gedauert haben. Die linke Spur soll nur wenige Minuten blockiert worden sein. Eine Tierärztin sagt aus, sie hätte die Protestaktion als sehr friedlich wahrgenommen. Es habe sich niemand gewehrt oder aggressiv verhalten. Auf die Nachfrage von Leon M., wie sie sich dabei gefühlt habe, sagt sie »neutral«. Die Autofahrerinnen wirkten gelassen. Auch ein 58-jähriger Berufskraftfahrer sagt aus, keine Nachteile durch die Blockade erlebt zu haben.

Als sachverständiger Zeuge der Verteidigung spricht der Soziologe Dr. Simon Teune. Er ist Protestforscher an der Freien Universität Berlin und soll den Protest wissenschaftlich einordnen. Teune erklärt, dass Proteste dieser Art als Signalfunktion dienen und daher den Alltag stören müssen, um möglichst viel Aufmerksamkeit zu erzielen. So solle die Politik unter Druck gesetzt werden, ihre Klimapolitik zu verbessern. Komme man mit Petitionen oder friedlichen Demonstrationen zu keinem Ergebnis, müssen Protesformen angepasst werden. Denn Proteste für den Klimaschutz seien geprägt durch den unmittelbaren Handlungsdruck. Nach acht Stunden ist der erste Prozesstag beendet.
 

Der Prozess wird fortgesetzt

Vier Tage später, am 4. Juli, beginnt der zweite Prozesstermin. Zuerst wird geklärt, dass nach Recherchen durch die Richterin, der einstündige Stau auf der rechten Spur nicht wie angenommen von der Sitzblockade der Letzten Generation verursacht wurde, sondern durch die Polizeibeamten vor Ort. Die Blockade sei zu Zwecken der Dokumentation und Personalienaufnahme unnötig lang gesperrt gewesen.

Die Staatsanwältin beurteilt in ihrem Schlusswort das Ziel der Blockade zwar als »löblich«, sie könne die Wichtigkeit des Klimaschutzes nicht abstreiten. Dennoch sei dies keine Rechtfertigung für illegale Sitzblockaden. Zivilen Ungehorsam könne man nicht pauschal als Rechtfertigungsgrund berücksichtigen, da dies zur Legalisierung von Straftaten führen könne, um politische Ziele zu erreichen. Die Staatsanwältin fordert dreißig Tagessätze zu 20 bis 30 Euro. Die Verteidigung plädiert gemeinschaftlich auf Freispruch und verweist auf die Meinungs- und Versammlungsfreiheit. Zum Schluss tragen die fünf Aktivisten und Aktivistinnen abermals emotionale Schlusswörter vor. Der Aktivist Kevin H. betont, er habe schon einige Verfahren erlebt, aber noch nie auf Augenhöhe so wie heute.

Nach einer einstündigen Pause verliest die Richterin das Urteil: Freispruch. Maßgeblich dafür ist die geringe Dauer der Blockade, das zuvor angekündigte Vorhaben, der Sachbezug zum Klimaschutz und keine negativen Auswirkungen auf die Verkehrsteilnehmer. Denn auch nicht angemeldete friedliche Demonstrationen seien von der Versammlungsfreiheit geschützt. Die Richterin fügt hinzu, sie habe in Anbetracht des Einzelfalles entschieden. Zukünftige Blockaden seien weiterhin illegal.  

Nach dem Prozess ist Aktvistin Pia O. erleichtert: »Ich fühle mich krass gut. Ich muss ehrlich sagen, ich habe nicht damit gerechnet.« Sie sei allerdings enttäuscht, dass das Urteil unter dem Aspekt des Einzelfalles gefällt wurde und nicht in Hinblick auf den Protestgrund, also der Klimakatastrophe und einer Regierung, die nicht bereit sei zu handeln. »Wir haben in unseren Einlassungen und unseren letzten Worten mehrmals dargestellt, dass alle Formen des Protests schon ausgelotet wurden. Alle weiteren friedlichen, demokratischen Mittel wurden schon ausgereizt und haben nichts oder zu wenig gebracht«, sagt Pia O. Bei einer Sache sind sich weiterhin alle einig. »Wir machen weiter mit unseren friedlichen Blockaden«, so Pia O.

Das Urteil ist rechtskräftig, sofern kein Einspruch durch die Staatsanwaltschaft innerhalb einer Woche eingelegt wird. Sollte es dazu kommen, müssen sich die Angeklagten vor dem Landgericht erneut verantworten.


Foto: Protest vor dem Amtsgericht Leipzig, Foto: Nastasja Kowalewski.


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