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Stadtleben

»Was kann jetzt noch passieren?«

Stress und Glück: Eine Ukrainerin über ihr erstes Jahr in Leipzig

  »Was kann jetzt noch passieren?« | Stress und Glück: Eine Ukrainerin über ihr erstes Jahr in Leipzig

Vor einem Jahr erzählte der kreuzer die Fluchtgeschichte zweier ukrainischer Schwestern: Diese mussten vor ihrer Ankunft in Leipzig bei einer Gastfamilie in Sachsen-Anhalt Erfahrungen mit Schikane und Arbeitsausbeutung machen – ein Jahr später sprechen wir mit Olja* über ihr erstes Jahr in Leipzig.

Bei unserem letzten Gespräch sind Sie, Ihre Schwester und deren zwei Kinder gerade in einem Hotel untergekommen, das der Arbeitgeber Ihrer Schwester bezahlt hat. Wie ist es dann weitergegangen?

Bei der Firma meiner Schwester gab es recht plötzlich einen neuen Chef, der die 30 Familien, die im Hotel untergebracht waren, rausgeschmissen hat. Von einem Tag auf den anderen hatten wir kein Dach mehr über dem Kopf. Das war sehr stressig, plötzlich mit Kindern und Gepäck auf der Straße zu stehen. Wir konnten dann bei einer ukrainischen Bekannten unterkommen, die gerade eine Wohnung bekommen hatte. Dann haben wir uns in die Wohnungssuche gestürzt, haben Tag und Nacht Anzeigen durchsucht und Anfragen geschrieben.

Und das, nachdem Sie in Sachsen-Anhalt bereits einen »stressigen« Start in Deutschland hatten. Wie sind Sie mit den Erfahrungen umgegangen?

Das war schrecklich, das war moderne Sklaverei dort. Ich habe die Nummer des Gastgebers blockiert und nichts mehr von ihm gehört. Wir waren besorgt, dass es noch ein Nachspiel geben wird. Aber jetzt habe ich keine Angst mehr – was kann jetzt noch passieren? Nichts. Für viele Geflüchtete aus der Ukraine ist die deutsche Bürokratie sehr belastend. Aber dieser ganze Stress mit dem Papierprozess, das ist nichts im Vergleich zu der Situation bei der Gastfamilie. Bei der Wohnungssuche hatten wir aber richtig Glück, nach sechs Wochen hatten wir eine Zusage für eine Wohnung in Grünau, und auch, dass das Jobcenter bei der Miete hilft.

Wie lief sonst der Bürokratieprozess in Leipzig?

Die Bürokratie um unsere Aufenthaltstitel war wahnsinnig. Wir haben jeden Tag Briefe geschrieben, telefoniert und uns Hilfe gesucht, waren bei allen Ämtern. Das war ein unendlicher Weg. Es hat bis Ende September gedauert, normalerweise geht das schneller. Jetzt haben wir einen Aufenthaltstitel bis März 2024, wenn dann noch Krieg in der Ukraine ist, wird dieser wahrscheinlich verlängert, sonst wird im Einzelfall geprüft, ob wir länger bleiben können. Das Einzige, was schnell ging, war das Schulamt. Die Kinder meiner Schwester gehen seit Beginn in die Schule und lernen sehr schnell Deutsch.

Und Sie haben erzählt, dass Ihnen Deutschlernen auch richtig Spaß macht.

Als wir in Leipzig ankamen, war ich zum ersten Mal in einem deutschen Supermarkt – das durften wir bei dem Gastgeber ja nicht – und kauften eine Flasche Wein. Es war ein trockener Wein, was ich normalerweise nicht mag, aber das erste Wort, das ich auf Deutsch gelernt habe, war deshalb »trocken«, und danach »lieblich«. Im Herbst habe ich angefangen, in einen Deutschlerntreff von Freiwilligen zu gehen. Seit ein paar Wochen mache ich einen richtigen Deutschkurs und bin sehr zufrieden mit meiner Schule, es macht mir Spaß.

Wie ist Ihre Perspektive für die nächste Zeit in Deutschland?

Ich habe letzten Oktober, als ich dann den Aufenthaltstitel hatte, meine Mutter in der Ukraine besucht. Es war total schockierend: In meinem Vorort ist viel verbrannt, überall war Asche auf dem Boden, das Gebäude meiner Wohnung zerstört. Als ich ankam, ist direkt eine Sirene angegangen, ich habe Panik bekommen, weil ich das nicht gewöhnt bin. Nachts war ich sehr unruhig, habe kaum geschlafen und darauf gewartet, nach Leipzig zurückzukommen. Erst zurück in Deutschland konnte ich mich beruhigen ... Im Moment tendiere ich eher dazu, in Deutschland zu bleiben. Ich will weiter Deutsch lernen, vielleicht kann ich hier mein Diplom anerkennen lassen, und sonst eine Ausbildung machen. In der Ukraine habe ich in einer Firma gearbeitet, die Übersetzungen für Konferenzen und Events organisiert hat. Die wirtschaftliche Situation in der Ukraine ist sehr schwierig, ich finde dort keine Arbeit. Viele geflüchtete Frauen sind bereits zurück in die Ukraine gegangen, fühlen sich in Deutschland nicht wohl und haben große Probleme mit der Bürokratie. Aber mir gefällt es hier sehr gut, ich habe jetzt deutschsprachige neue Freunde und verstehe den Humor und die Mentalität … vielleicht war ich in einem früheren Leben eine Deutsche.

Wie fühlen Sie sich hier in Leipzig aufgefangen?

Letzten Sommer bin ich ein bisschen mit dem 9-Euro-Ticket durch Deutschland gefahren, das war eine tolle Möglichkeit. Ich habe mir andere Städte angeschaut, und generell wirken die Menschen in Deutschland sehr zuversichtlich auf mich, was man nicht mehr in den Augen der Menschen in der Ukraine sehen kann. Aber Leipzig gefällt mir am besten, Leipzig könnte eine Stadt für meine Zukunft sein. Am schönsten finde ich, dass die Leute hier so bunt sind: Bunt geschminkt, mit bunten Tattoos, sie sehen alternativ aus, und dafür muss man hier nicht jugendlich sein.

■ Wie Olja, ihre Schwester und deren Kinder nach Leipzig kamen, erzählt Charis Mündleins Titelgeschichte aus dem kreuzer 05/2022. Sie und weitere Artikel zum Thema finden Sie unter www.kreuzer-leipzig.de/ukraine

*Name von der Redaktion geändert. Das Gespräch wurde in ukrainischer Sprache mit deutscher Übersetzung geführt. Vielen Dank an Kseniia Kashtulova!

Das Interview erschien zuerst in der kreuzer-Ausgabe 07/23.

Illustration: Chris Schneider


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1 Kommentar(e)

Ferrari 29.07.2023 | um 12:40 Uhr

Hello, Interesting article Charis. I have been to Ukraine and most parts of Europe too. I believe we may have met in Prague just before the Pandemic. Good to see you still continue to write. Edward