Titelbild: Christiane Gundlach
Obwohl Deutschland in anderen Ländern als »Erinnerungsweltmeister« gilt, klafft noch immer eine große Lücke zwischen öffentlicher und privater Erinnerung. Vor der Auseinandersetzung mit der eigenen Familiengeschichte – vorausgesetzt, die Vorfahren gehörten nicht zu den Verfolgten – drücken sich die meisten. Zwei Drittel der Bio-Deutschen glauben, dass ihre Großeltern oder Urgroßeltern keine Täter und Täterinnen waren, wie aus der Studie »Multidimensionaler Erinnerungsmonitor 2019« von der Universität Bielefeld hervorging. Es dominiert also die kollektive Unschuldsvermutung. Gleichzeitig nimmt der Wunsch nach »Wiedergutwerdung« zu, den der Journalist Eike Geisel bereits in den Achtzigern attestierte.
Auch die Ausstellung »Hakenkreuz und Notenschlüssel« im Stadtgeschichtlichen Museum, die Machtmissbrauch und Korruption in der Musikstadt Leipzig zwischen 1933 und 45 aufarbeiten will, stolpert über die familiäre Schuldabwehr. In neun thematischen Schwerpunkten – von Gleichklang bis Paukenschlag – ergibt sich darin ein facettenreiches Bild. Allerdings hat sich den gezeigten Figuren und Notenheften ein ungewöhnliches »Ausstellungsstück« hinzugesellt.
Neben der Biografie des Komponisten Helmut Bräutigam (1914–42), der im NS das Leipziger Konservatorium – die heutige HMT – besuchte und sich für die ideologische Gleichschaltung der Schule einsetzte, liegt eine A4-Seiten-große Gegendarstellung von Angelika Schaller. Die entfernte Verwandte des Porträtierten und Leihgeberin seiner zu sehenden Instrumente zeigte sich nach Eröffnung der Ausstellung unzufrieden mit dem allzu kritischen Text des Stadtgeschichtlichen Museums. Sie wollte den Komponisten weniger ideologisch verwickelt sehen. Sogar die Entfernung ihrer Musikinstrumente stand im Raum. Das Porträt des Musikers zu verändern, wäre für die Ausstellungskuratorin und Expertin für Musikgeschichte im Museum, Kerstin Sieblist, nicht in Frage gekommen. Die Erklärung Schallers auszustellen war ein Kompromiss, zu dem die Kuratorin meint: »Das ist ein Angebot an den Besucher, der sich dann sein eigenes Urteil bilden kann.« Einen kontextualisierenden Kommentar zum vorherigen Konflikt gibt es in der Ausstellung nicht.
Es ist fraglich, ob das Museum so seiner erinnerungspolitischen Verantwortung gerecht wird. Anstatt die Leihgaben notfalls zurückzugeben, bagatellisiert nun Schallers Darstellung das nationalsozialistische Engagement, das Sieblist in der Biografie Bräutigams problematisiert. Die Kuratorin erzählt, es habe sich bei Bräutigam um ein »aufstrebendes Talent« gehandelt, das sich von der »nationalsozialistischen Ideologie angesprochen« fühlte. Schaller behauptet hingegen, dass der Komponist schon früh »heftige Kritik am Führungsstil und an der NSDAP« geäußert und sich später in die »innere Emigration« zurückgezogen habe. Sie beruft sich dabei besonders auf eine veraltete Dissertation aus den sechziger Jahren und ihre private Verbindung zu Bräutigam: »Dokumente sind die eine Seite – persönliche Briefe und Gedanken die andere Seite.«
Diese Darstellung steht nicht nur im Widerspruch zu den Ausstellungstexten, auch zeichnet die gegenwärtige Forschung ein grundsätzlich anderes Bild. Musikwissenschaftlerin Maren Goltz widmet Helmut Bräutigam in ihrer Dissertation »Musikstudium in der Diktatur« ein eigenes Kapitel. Sie betont darin: »Die Herausarbeitung der Aufgabe des gegenwärtigen Musikers als eines ›volksnahen‹ Erziehers und die praktische Umsetzung dieser Ideologie am Leipziger Landeskonservatorium durch den dortigen NSD-Studentenbund standen im Zentrum seines Wirkens.« Und weiter: »Fast alle seine Aktivitäten standen im Zeichen der aktuellen Ideologie. Dazu gehörten die 500 nahezu grundsätzlich zweckbestimmten musikalischen Werke ebenso wie seine enge Bindung an die HJ.«
Wenn Schaller ihr Statement mit dem Satz »Wir leben heute in einer Demokratie und können uns glücklich schätzen, solchen Nöten nicht ausgesetzt zu sein.« schließt, stilisiert sie den Ideologen hingegen zum Opfer der Umstände. Obwohl sich Ausstellungskuratorin Kerstin Sieblist im kreuzer-Interview gegen Schlussstrichdebatten ausspricht, gibt das Stadtgeschichtliche Museum damit im Namen des Meinungspluralismus familiärer Schuldabwehr eine Plattform. Diese Schuldabwehr trägt in Bräutigams Geburtsort Crimmitschau bedenkliche Früchte: Dort ist nicht nur eine Straße nach dem Komponisten benannt, auch kommt es alle drei Jahre zur unkritischen Verleihung des Helmut-Bräutigam-
Preises.
Das Problem der Ausstellung beginnt nicht erst beim unwissenschaftlichen Umgang mit der Kritik Schallers, sondern bei der »Hakenkreuz und Notenschlüssel« zugrundeliegenden Fragestellung: Die Ausstellung solle zum Nachdenken anregen, erklärt die Kuratorin: »Was musste jemand tun? Inwieweit konnte man sich entziehen? Die Besucher sollen sich in die Position hineinversetzen und überlegen: Was hätte ich getan?«
Aber ist das die richtige Frage? Welche Erkenntnis sollte aus der Einfühlung in nationalsozialistische Musiker entspringen? Diese Perspektive verleitet dazu, persönliche Verantwortung in Sachzwänge aufzulösen. Statt Zwang von oben und Arrangement mit den Verhältnissen müsste doch die alltägliche Schuld betont werden. Die Schuld, vom Berufsverbot der jüdischen Kollegin profitiert zu haben, die Schuld, mit Freude völkische Lieder gesungen zu haben, die Schuld, »unerwünschte« Musik aus dem Kanon gestrichen zu haben. Dieses unaufgearbeitete Erbe kehrt nicht nur in antisemitischen und rassistischen Gewaltausbrüchen wieder, wie Samuel Salzborn in »Kollektive Unschuld« schreibt. Wer in den Urgroßeltern nur getäuschte Mitläuferinnen und Mitläufer sehen will, sieht in den rechten Stimmen von heute nur Protestwählerinnen und -wähler.