Die Industriebrachenumgestaltung geht in ihre 18. Auflage. Das Festival für urbane Kunst findet jährlich in Sachsen statt – und in diesem Jahr zum ersten Mal in Leipzig. An den kommenden zwei Wochenenden öffnet das RAW-Gelände in Engelsdorf dafür seine Türen.
Ein Dach hat der Raum nicht mehr, in dem die Badewanne steht. Gras wächst in ihr, auch aus dem Waschbecken daneben und aus der Toilette. Den Boden sieht man vor lauter Gras, Farnen und kleinen Bäumchen nicht mehr. Was wirkt, als hätte sich die Natur eine Ruine zurückerobert, ist in Wirklichkeit ein Kunstwerk von Element Art. Das passt: Der Raum befindet sich auf dem ehemaligen Reichsbahnausbesserungswerk in Engelsdorf, das in diesem Jahr das Ibug-Festival für urbane Kunst beherbergt.
Das Werk entstand 1903, als der Leipziger Hauptbahnhof ausgebaut wurde. Dampflokomotiven, Personen- und Güterwagen wurden hier instandgehalten. Durch die Wiedervereinigung Deutschlands und die Bahnreform 1994 verlor das Werk zunehmend an Bedeutung. Heute liegen große Teile brach.
Es ist eines der größten Areale, das die Industriebrachenumgestaltung (Ibug) je bespielt hat. Auf etwa 10.000 Quadratmetern Ausstellungsfläche sind derzeit zahlreiche Kunstwerke verschiedener Art zu sehen: Wandbemalungen, Poster, Skulpturen, Illustrationen und vieles mehr. 80 Künstlerinnen, Künstler und Kollektive haben in den vergangenen Wochen den Lost-Place mit neuem Leben gefüllt. Laut Veranstalter erkundeten rund 4.000 Besucherinnen und Besucher die Ausstellung am ersten Wochenende.
Neben der Badewanne gibt es noch weitere Werke, die das Thema der Renaturalisierung aufgegriffen haben. Benjamin Duquenne hat etwa dünne Birkenstämme an die Außenwand einer Halle gestellt und sie in ein Fenster hineinragen lassen, die an anderer Stelle wieder herauszuwachsen scheinen. Die flächenmäßig größte Arbeit, die es je auf der ibug gab, hat Albin Flieder geschaffen: Eine Birke hängt horizontal von der Decke, an einer Wand im Raum mimen Stränge aus Alufolie ihre Wurzeln. Diese werden von speziellen Lampen angeleuchtet – in ein paar Wochen werden die Wurzeln entfernt, zurückbleiben soll dann ihr Schatten. Darunter hat der Künstler Gras gesät. Ein eher politisches Thema greift »The Chess Turk« von der Freizeitgruppe Gestaltung auf. In einem Raum hängen KI-generierte Bilder von Angestellten, die Künstliche Intelligenzen auf gewaltvolle Inhalte überprüfen – und sich diese den ganzen Tag anschauen, damit wir Konsumentinnen und Konsumenten es nicht tun müssen.
Einige Leipziger Künstlerinnen und Künstler haben ebenfalls ihre Spuren in der Ausstellung hinterlassen: André Schmidt hat 20 kleine Miniatur-Szenen erschaffen, nach denen man auf dem ganzen Gelände Ausschau halten kann, zum Beispiel in alten Stromkästen. So interagiert er mit dem Gebäude selbst, wie andere Werke auch. An vielen Ecken stellt sich zudem die Frage: Was ist alt und was neu? Das ist auch laut Veranstaltern das Ziel des Festivals, denn künstlerische Vorgaben gibt es keine, die Werke sollen aber die Geschichte und Architektur des Areals miteinbeziehen oder einen Fokus auf die Überreste sächsischer Industriekultur legen.
Wie bei »echter« Street-Art, die kostenlos auf Straßen und Häuserwänden in Städten zu finden ist, gibt es keine Erklärung zu den Arbeiten. Dafür finden den ganzen Tag über anderthalbstündige Führungen statt, bei denen das Team der Kunstvermittlung Hintergründe zu einigen Werken und Kunstschaffenden liefert. So holt man aus den museumshaften 15 Euro Eintritt alles raus. Der Preis ist zwar insofern verständlich, dass hinter dem Festival ein ehrenamtlicher Verein steckt und alle Team-Mitglieder unvergütet arbeiten. Vielleicht wäre jedoch ein Eintritt auf Spendenbasis sinnvoller gewesen, um die Ausstellung für noch mehr Menschen zugänglich zu machen.
Essens- und Getränkestände warten mit Erfrischungen und einer breiten Auswahl für den kleinen Hunger zwischendurch auf. Im Rahmenprogramm zur Ausstellung kommen die Künstlerinnen und Künstler bei Podiumsdiskussionen selbst zu Wort, außerdem gibt es Vorträge zur Geschichte des Ortes und Musik, kommenden Sonntag spielt zum Beispiel die Leipziger Band Super Joy Club ihren Mix aus melancholischem Neo-Psychodelia, Synth-Pop und Funk.
- IBUG: 25. bis 27.8. und 1. bis 3.9., Fr 16–22, Sa/So 10–22 Uhr, Tagesticket 15 Euro (erm. 10), Familienticket 30 Euro, Eintritt frei für Kinder bis 6 Jahre und Schwerbehinderte mit einem Behinderungsgrad ab 50, https://ibug-art.de
- Kunstrundgänge freitags 16:30 u. 17:30, samstags u. sonntags je 10:30, 11:30, 13:30, 14:30, 15:30, 16:30, 17:30