anzeige
anzeige
Stadtleben

Lyrik im Fahrtwind – Die weiten Himmel des Elmar Schenkel

Ein Gastbeitrag zum Geburtstag

  Lyrik im Fahrtwind – Die weiten Himmel des Elmar Schenkel | Ein Gastbeitrag zum Geburtstag  Foto: Peter Hinke (2012 in der Buchhandlung Wörtersee)

Der Autor und Universalgelehrte Elmar Schenkel feiert heute seinen 70. Geburtstag. Verleger und Buchhändler Peter Hinke versucht in seinem Gastbeitrag, »den unglaublichen Elmar Schenkel im wahrsten Sinne des Wortes zu fassen zu bekommen. Denn tatsächlich kann man meinen, es gibt ihn mehrfach …«

Ich habe früher gern Menschen, die mir imponierten, nach ihrem Geheimnis gefragt, ob es eine Art Schlüssel gäbe für ein glückliches Leben, welches ja wohl  auch meist mit einer tragenden Arbeit, einer Berufung sozusagen, zu tun hat. Denn ich wollte auch so sein wie sie, ich wollte bedeutsame Dinge schaffen und gleichzeitig froh und frei sein. Spätestens als der Verleger Siegfried Unseld diesem Versuch, also letztlich meinem Tun einen tieferen Sinne geben zu wollen, mit einem Vortrag über sehr, sehr frühes Aufstehen, Korrespondenzen im Morgengrauen, tägliches Schwimmen in kühlen Gewässern begegnete, wusste ich, dass dies für mich selbst wohl ein Wunschtraum bleiben würde, denn Ernst, Disziplin und Leichtigkeit schienen unvereinbar zu sein. Doch da ist nun Elmar Schenkel. Über diesen Mann nachzudenken scheint riskant. Wenn man versucht zu ergründen, wie er lebt, arbeitet, wie er schöpft, dann gelangt man schnell zu den eigenen Unzulänglichkeiten, die verhindern, dass man selbst ein großer Dichter wird, ein Biograf, ein Romancier, ein Reiseschriftsteller, ein Essayist, ein Übersetzer, ein Herausgeber, ein Maler, ein Forscher, ein großer Reisender, ein Zen-Bogenschütze, ein König der Radfahrer, ein Sprachkundiger, Nietzsches Wächter, Namensgeber einer Fußballmannschaft, ein Dorfschreiber,  ein Universalgelehrter. Sicher habe ich einiges vergessen. Man könnte fast verzweifeln, denn Elmar Schenkel ist dies alles und noch mehr, vielleicht nicht immer und jederzeit, aber wohl doch fast und immer wieder.

Neben den bereits erwähnten Berufungen scheint dieser Mann auch die Gabe zu besitzen, an verschiedenen Orten gleichzeitig zu sein. Doch wie ist es möglich, so viele Dinge zu vereinen? Und dabei stets die Ruhe selbst zu sein? Eine frühere Theorie von mir war, dass es vielleicht mehrere Ausgaben Elmar Schenkels gibt, die gemeinsam in einem Haus im Leipziger Vorort leben und sich Arbeit und Leben  teilen. Zwei, drei, eher vier Elmar Schenkels müssen es sein, von denen einer auf dem Sofa ruht, während der zweite mit dem Rad die Stadt quert, auf dem Weg zu seinen Studenten, dem Sportstudio oder seinem Atelier. Der dritte Elmar Schenkel schreibt täglich lange Artikel oder das Buch für die nächste Woche, während der vierte gerade auf Reisen ist und sich im Moment im tiefsten Russland in einem Zugabteil mit einer alten Bäuerin, die einen Korb mit Hühnern dabei hat, über Tolstoi unterhält. Oder über Nietzsche, in irgendeiner schwierigen Sprache, die nur sie verstehen oder die Elmar Schenkel in diesem Moment gerade erlernt oder wahrscheinlich gar selbst erfindet. Elmar Schenkels Äußeres erinnert an die Urwüchsigkeit eines Reinhold Messner. Während ich dies schreibe, schaue ich mir natürlich auch gleich Bilder von Reinhold Messner an, ich möchte nichts Falsches zu Protokoll geben. Doch, ja, da ist die Entschlossenheit, aber auch der Blick des Mannes der Berge, selbst die Haar- und Barttracht ähneln sich, auch wenn Reinhold Messner natur- und lebensbedingt in Sachen Haarlänge und Wildheit vielleicht noch einen gewissen Vorsprung hat. Beide Männer sind zudem Reisende und haben viel gesehen von der Welt.

Elmar Schenkel trägt oft kleine Dinge mit sich herum, Pfeifen oder Maultrommeln, kleinformatige Kuriositäten, mit denen er im Zweifelsfall Kinder amüsieren, Fremde beeindrucken und vielleicht auch Säbelzahntiger in die Flucht schlagen kann. Auch hat er eine Vorliebe für klebrige Bonbons und zuckrige Lakritze. Man kann ihn immer mit gutem Essen locken und unlängst ist es mir sogar – natürlich aus rein wissenschaftlichen Gründen – gelungen, ihn in einem Anfall von Übermut zu einem Testverzehr einer extrem scharfen Chilischote (mit sicher über 100.000 Einheiten auf Wilbur Scovilles Skala) zu bewegen. Es ging ihm schlecht, ich aß im Affekt und aus Solidarität mit und nach der Wiederbelebung mit Brot und Wasser lachten wir. Elmar Schenkel lacht gern, auch über sich selbst. Elmar Schenkel interessiert sich für die Dinge des Alltags, denn alles birgt Geschichten, von der Pfütze bis zur Pyramide. Seit einiger Zeit sind nicht einmal die Dentisten vor ihm sicher, »Zahn und Wahn« heißt ein neueres Projekt, und was liegt auch näher als die Zahnheilkunde einmal philosophisch-literarisch abzuklopfen, wenn man schon einmal auf dem Zahnarztstuhl Platz genommen hat. Schreibhemmungen sind ihm fremd. Braucht man zum Beispiel ganz dringend ein Gedicht, nimmt er auf dem roten Sofa Platz und schreibt eines (»An solchen Tagen«). Er freut sich über absurde Fragen und liefert dann gern einen schönen, uneitlen Essay, wie neulich eine Stegreif-Abhandlung über Grußkulturen in der Welt.

Und wenn in Elmar Schenkels Bibliothek wieder einmal einer der hoch aufgetürmten Bücherstapel neben den zum Bersten gefüllten Regalen ins Rutschen kommt, wenn die illustrierten Werke über die Gestirne in die Dünndruckausgaben der indische Dichtkunst fallen und sich dabei vereinen, dann wissen wir: Es ist Zeit für eine neues Buch.

Elmar Schenkel bewegt sich gern auf dem Fahrrad. Selbstverständlich gibt es von ihm zum Thema auch mindestens ein Buch (»Cyclomanie«) und natürlich ist Elmar Velociped (so sein Fahrername) einer der Besten beim jährlichen Stadtradeln. Ich erlaube mir, hier aus Elmar Schenkels geheimen Renntagebuchnotizen zu zitieren:

Bulletin vom 4.9.
55 km

Folgende Strecke: Soest Innenstadt, China Restaurant bei den alten 
Kasernen (Belgier und Kanadier wohnten da), dann fälschlicherweise auf 
die Schnellstraße und beinah Autobahn Dortmund, musste auf der 
falschen Seite ganz schnell zurückrudern, bevor die Polizei kam. Aber 
das ergab 3 km. Von dort folgende Orte angesteuert:
Deiringsen
Wippringsen
Theiningsen
Meiningsen
Ampen
Paradiese – hier weilte ein halbes Jahr Simplicius Simplicissimus und 
wurde bekannt als Jäger von Soest. Ein Nonnenkloster, in dem ev und 
kath Nonnen eine Zeitlang zusammenlebten. Aber es gab immer Streit.
Schwefe – der dortige Buchkasten war besser als der in Welver, aber 
ich nahm nichts mit
Borgeln
Hattropholsen
Meckingsen, oh ja
Katrop
Soest
bei Thalia am Wühltisch fand ich Bulgakovs Tagebücher. Gestern 
daselbst Doderer, die Dämonen. Man darf aber nicht wühlen, sondern 
muss das Buch an der Oberfläche heranschwimmen lassen!
unterwegs von 14.30 bis 19.30 mit Pausen
jetzt hab ich den Schlüssel für das Haus vom Kükelhaus ...
buona serata!

Hier, an diesen spontan und sicher freihändig während des Radfahrens in seiner Heimatregion entstandenen Notizen, kann man ermessen, dass Schnelligkeit und klassisches Verhalten eines Flaneurs sich nicht unbedingt ausschließen müssen. Fahrtwind wird zu Lyrik.

Zwar kann Elmar Schenkel bei diesen Erkundungen sicher keine Schildkröte neben sich führen, aber vielleicht findet diese ja doch in seinem Fahrradkorb Platz. Und vielleicht kennt auch nur diese Schildkröte wirklich Elmar Schenkels Geheimnis, welches ihm ermöglicht, auch im Flirren des schnellsten Alltags alles mit allem zu verbinden und mit seinen Augen immer wieder das kleine Schöne im großen Ganzen zu sehen.

Und das ist neue Hoffnung für uns, für mich: Ernst, Disziplin und Leichtigkeit können nebeneinander, ja miteinander existieren. So sollte jeder von uns noch heute das Kind in sich wieder erwecken, auf ein Fahrrad steigen, ein Bild malen und ein Gedicht schreiben. 

Herzlichen Glückwunsch, lieber Elmar! 


Dieser Text erschien erstmals am 24. August 2023 im Connewitzer Literaturkurier, Peter Hinkes wöchentlichem Newsletter für seine Connewitzer Verlagsbuchhandlung.


Kommentieren


0 Kommentar(e)