Karola Obermüller, die diesjährige Eisler-Stipendiatin der Stadt Leipzig, komponiert auf der Suche nach Unbekanntem mit mehrfach geschichtetem, verrätseltem Material. Unter der Oberfläche eingegraben, klingt es mal opulent und strotzt es mal vor rhythmischer Energie. Obermüller ist Professorin an der University of California San Diego. In dieser Saison jedoch lebt und arbeitet sie in der Geburtswohnung von Hanns Eisler nahe dem Leipziger Hauptbahnhof.
Sie hätten schon als Kind bei den Darmstädter Ferienkursen die neuesten Musikströmungen inhalieren können. Hatte Ihr Geburtsort denn Einfluss auf Ihren Werdegang?
Die Kinderkompositionsklasse an der Darmstädter Akademie für Tonkunst hat mich beeinflusst. Mit 16 habe ich entschieden, Komponistin zu werden. Die von Ihnen genannten Ferienkurse habe ich erst elf Jahre später zum ersten Mal besucht, als ich schon zum Promovieren an der Harvard University war.
Wie würden Sie selbst Ihre Musik beschreiben? Und welche Rolle spielt das sinnliche Erfahren der Musik durch die Zuhörenden dabei?
Meine Musik kreist immer wieder um dieselben Anziehungspunkte: um die Zeit an sich und das Spiel damit, wie das Hineinzoomen oder Vergrößern, Dehnen und Stauchen, um physikalische Kräfte und Größen, die in der und auf die Musik wirken, wie Druck, Schwerkraft, Fliehkraft, Gewicht, Trägheit, Geschwindigkeit. Außerdem um Traum und das Verborgene, auch Magische und – vor allem im Musiktheater – Politik, gesellschaftliche Traumata und Utopie. Musik ist gestalteter Klang, der über Sinnesorgane aufgenommen wird – und durchaus direkt an die Nieren gehen kann. Es ist bei jedem meiner Stücke anders – hoffe ich!
Im Oktober erklingt in der Reihe Musica nova traditionell ein Werk der aktuellen Eisler-Stipendiatin. Was werden wir von Ihnen hören?
Ich habe in Leipzig an einem Oktett gearbeitet. Es ist ein Stück für Klarinette, Fagott, Posaune, Schlagzeug, Harfe, Klavier, Violine und Kontrabass.
Welche Fragestellungen beschäftigten Sie dabei musikalisch?
Zum Beispiel: Wie »übersetze« ich eine uralte geschichtete Gesteinsformation in Klang, in die Dimension der spürbar vergehenden Zeit, in Nicht-Materie, in Schallwellen? Geht das? Und was heißt das? Oder: Wie würden wir hören, wenn wir so klein wie Ameisen wären? Wie würde unsere Musik dann klingen? Oder: Was macht unser Gehirn mit auditiven Déjà-vus? Und und und …
Wie ist Ihr Verhältnis zu Hanns Eisler als Komponist?
Ich schätze ihn sehr, amüsiere mich köstlich über viele seiner Aphorismen und Schriften, fühle mich dem Frechen und Kratzbürstigen in manchen seiner Musiken nahe, ebenso wie seinem deutsch-österreichisch-amerikanischen Lebensweg. Ich denke immer wieder daran, wie er zuerst vor den Nazis in die USA fliehen musste und später dann wegen »kommunistischer Umtriebe« aus den USA ausgewiesen wurde. Jetzt gehe ich nach Kalifornien, da war Eisler auch. Und in Österreich habe ich auch zwei Jahre lang gelebt …
Eisler war ein wirklich politischer Künstler. Wie denken Sie über das Verhältnis von Kunst und Politik?
Eisler war mutig. Darin ist er ein Vorbild für mich. Auch in meinem Kompositionsunterricht ging es – und da denke ich jetzt insbesondere an die letzten Jahre in den USA mit Trump – immer wieder um die Gefahr, ins Totalitäre zu rutschen. Die haben wir ja hier in Deutschland und in ganz Europa auch. Neben der Klimakrise ist das eines der brennendsten, wichtigsten Themen, und das ist etwas, wo wir Künstler:innen ganz direkt Stellung beziehen können, auch in unserer Kunst. Ich finde es sehr wichtig, dass wir politisch wach sind und bleiben – und im besten Falle auch Aktivist:innen sind. Besonders in meinen Musiktheaterwerken verbinde ich häufig Musik und Politik eng miteinander.
Wie haben Sie die Stadt Leipzig erlebt?
Als wunderschöne, grüne Stadt, in der man toll Fahrrad fahren kann und die kulturell sehr viel zu bieten hat. Auch die Biergärten und die alten, fein sanierten Wohnungen und Häuser sind klasse. Und den antiquarischen Buchladen an der Nikolaikirche liebe ich sehr.
> Uraufführung von Karola Obermüllers in Leipzig entstandenem Werk am 11.10., 20 Uhr, Gewandhaus, Mendelssohn-Saal in der Reihe Musica nova mit dem Ensemble Avantgarde und Steffen Schleiermacher (Klavier, Leitung, Moderation), die außerdem Eislers Acht Klavierstücke op. 8 und Sonatensatz für Flöte, Oboe und Harfe op. 49 sowie eine Komposition des erst am Abend verkündeten 2024er Eisler-Stipendiaten spielen