anzeige
anzeige
kreuzer plus

»Das Wort kritisch ist mir total wichtig«

Rainer Totzke im Gespräch übers öffentliche Philosophieren und Einmischen – und über Kurt Mondaugen

  »Das Wort kritisch ist mir total wichtig« | Rainer Totzke im Gespräch übers öffentliche Philosophieren und Einmischen – und über Kurt Mondaugen  Foto: Christiane Gundlach

Die Fliegerkappe packt er vor unserem Gespräch wieder in den Rucksack. Auch unser Manuskript setzt er nicht in Flammen oder reißt es in Fetzen, als Kurt Mondaugen zum Gespräch in die kreuzer-Redaktion kommt. Mit dabei hat er Rainer Totzke. Oder ist es andersrum? Das erfahren Sie auf den nächsten Seiten, auf denen es ums Verhältnis der beiden zueinander geht, aber auch um öffentliche Denkanstöße, Modephilosophen und eine Entschuldigung des sächsischen Innenministers.

Wann haben sich Rainer Totzke und Kurt Mondaugen kennengelernt?

Irgendwann Mitte der Neunziger. Ich habe damals sporadisch Kolumnen für den Freitag geschrieben, so verrückte Geschichten auf der letzten Seite. Weil ich das Gefühl hatte, so was Verrücktes neben meiner Promotion nicht unter meinem normalen, bürgerlichen Namen machen zu können.


Und wie entstand der Name Kurt Mondaugen?

Mir fiel diese wichtige Figur aus Romanen von Thomas Pynchon ein. Da läuft ein Ingenieur aus Leipzig im Auftrag der Deutschen Forschungsgemeinschaft durch das ehemalige Deutsch-Südwest-Afrika, durch die Dörfer der nach den Massakern verbliebenen Herero. Der wird etwas dicker beschrieben, als ich es bin, ist aber in meinem damaligen Alter. Er nimmt atmosphärische Störungen in der höheren Stratosphäre auf. Das war so eine Metapher dafür, wie ich mich fühlte in den Neunzigern, den Baseballschlägerjahren, ohne Neuorientierung.


Auf die Bühne ging es dann aber erst zehn Jahre später, richtig?

Ja, aber nicht plötzlich. Ich hatte jahrelang an meiner Dissertation geschrieben, parallel dazu eine halbe Stelle beim Ökolöwen gehabt, weil die Diss natürlich nicht fertig wurde. Und ich hatte zwei Kinder mit meiner Freundin großzuziehen. Da war neben einer gelegentlichen Kolumne kein Raum für mehr. Und dann war irgendwann die akademische Karriere gefühlt vorbei, die Kinder wurden größer: Ich hatte wieder Kapazitäten und wollte etwas anderes machen. Da war eine Seite in mir, die wollte auf die Bühne. Ich hatte ganz vergessen, dass ich als Schüler immer irgendwelche Stücke inszeniert und mitgespielt hatte. Die Initialzündung war dann die Deutsche Poetry-Slam-Meisterschaft. Da dachte ich: Genau so will ich auftreten. Ich hatte meine Diss über die Differenz von Schriftlichem und Mündlichen geschrieben. Ich wollte meine Texte performen.


Haben Sie Journalismus auch aus dem Impuls heraus studiert, in die Öffentlichkeit zu gehen?

Das interessierte mich nur wenige Monate lang vom September 1989 bis zur Volkskammerwahl 1990, in diesem halben Jahr Hallraum, einer Zeit der Frage: Was könnte sein an öffentlichem Gespräch? Nur in der Zeit wollte ich wirklich Journalist sein. Also, ich hatte die vage Idee, als ich mich bewarb, aber als ich dann anfing zu studieren, wollte ich das schon gar nicht mehr, in der DDR sowieso nicht. Ich wollte aber eigentlich Philosophie studieren, etwas mit Schreiben machen. Und wenn man in der Provinz aufwächst, ist das einzig Fassbare, was damit zu tun hat, die Zeitung.


Wo sind Sie denn aufgewachsen?

In Schönebeck (Elbe). Ich bin 1988 zum Studium nach Leipzig gekommen.


Wie haben Sie die Stadt damals wahrgenommen?

Umweltmäßig war es der totale Schock. Die ganze Stadt war unter Smog. Ich war damals schon am Umweltschutz interessiert – in Schönebeck konnte man in der Elbe auch nicht schwimmen, aber das war hier viel krasser. Dazu kamen die verfallenden Häuser.


Das sieht heute ja ein bisschen anders aus. Gibt es bei allem Wandel peu à peu ein Erlebnis, an dem Sie persönlich die Veränderung der Stadt festmachen könnten?

So 1991 stand ich noch illegalerweise auf einem der stillgelegten Bagger in einem Tagebau und habe heruntergeschaut. Das war krass. Als dort dann später der Cospudener See geflutet wurde und man da baden konnte – das war so ein Moment.


Zurück zum Studium: Das haben Sie trotz innerer Distanz abgeschlossen, richtig?

Ja, ich habe mich auf die Philosophie konzentriert und bin wohl der einzige Journalismusabsolvent, der seine Abschlussarbeit über Heidegger geschrieben hat.


Woher rührte Ihr Interesse an der Philosophie?

So ganz kann ich den Verve, mit dem ich etwa über Heidegger promovieren wollte, nicht mehr nachvollziehen. Aber da sind so Momente von Authentizität, nach der DDR mit ihrem indoktrinierten Marxismus-Leninismus. Das ist dieser Moment des frühen Heideggers, der auch Hannah Arendt und Hans Jonas faszinierte, auch wenn sie sein späteres nationalsozialistisches Engagement nicht verstanden. Da sind diese Fokussierungen auf das Individuum und die Mühseligkeit, die Endlichkeit, Vergänglichkeit. Philosophie ist das Existenzielle und bei mir war sie über Umwege immer mit dem Politischen verbunden. Das war auch der Impuls, die Welt zu verstehen und besser zu machen. Daher kommt auch mein ökologisches Engagement. Ich lese gerade wieder Jonas’ »Prinzip Verantwortung« …


In der Neuauflage mit dem Vorwort von Robert Habeck?

Nein, noch in der alten Ausgabe. Und ich merke wieder, warum mich das damals so gepackt hat: Es war das erste West-Buch, das ich las. Dann Nietzsche, den man zu DDR-Zeiten nicht lesen konnte. Zwischen diesen Polen bewegte ich mich.


Und dann ging es mit der akademischen Hängepartie weiter?

Natürlich habe ich mich bemüht, da irgendwie reinzukommen. Die Stellen sind total rar. In der Philosophie kommen auf eine Professur 350 Habilitierte und Privatdozenten. Durch Zufall und weil mich jemand kannte, hatte ich erst die Stelle in Berlin und war dann in Magdeburg an der Uni. Aber immer nur eine halbe Stelle, sonst wäre ich eingegangen. Ich merkte, dass der reine akademische Betrieb gar nichts ist, womit ich mein ganzes Leben füllen möchte. Meine eigentliche Habilitation wäre, dass ich fünf, sechs Philosophie-Festivals organisiert habe. Aber für die Schnittstelle von Philosophie und Öffentlichkeit gibt es keine Professur.


Muss Philosophie performt werden? Haben Sie Probleme mit der Schriftlichkeit?

Totzke 1988
A Portrait of the Artist as a Young Man:
Totzke 1988

Die eine Antwort lautet, dass ich über Mündlichkeit und Schriftlichkeit eine schriftliche Arbeit verfasst habe. Damit war ich irgendwie nicht zufrieden. Das änderte sich erst, als ich gefragt wurde, ob ich an der HGB mal eine Performance zum Verhältnis von Philosophie und Kunst machen wolle. Das war der erste Moment, wo Kurt Mondaugen und Rainer Totzke zusammen auf der Bühne standen und sich gegenseitig anspielten. Das ist die individuelle Antwort. Die andere ist: Natürlich muss Philosophie nicht performt werden. Aber in den letzten Jahren hat es sich bei unseren Festivals gezeigt, dass es immer mehr darum geht, Gesprächssituationen herzustellen. Und anders, als man es kennt, also nicht Monolog wie an der Uni oder ein Podium mit zwei schlauen Leuten und dreien, die sich melden. Und mit diesen Formen des Vermittelns experimentieren wir. Es geht aber auch um den Rahmen, der ritualisierte und habitualisierte Dinge verlässt. Das Wichtigste bei Tagungen passiert im Off, im Anschluss, in der Kneipe. Da fangen die Leute plötzlich an, miteinander zu denken. Rorty sprach von bildenden Philosophen …


… Richard Rorty, ein Vertreter des Pragmatismus ...

Ja. Statt des theoriesuchenden Philosophen mischt sich der bildende auch als kompetenter und weit blickender Gesprächspartner in Alltagsdiskurse ein. Ich habe erkannt, dass ich mehr davon möchte – über die Fragen sprechen, die ungeschützt sind. Mein Interesse für das Ungeschützte ist mit der Performance verbunden, wo es darum geht, etwas zu riskieren. Dieser Moment ist in der akademischen Philosophie nicht so verbreitet.


Dieser Ansatz fand im vergangenen Jahr beim Festival Leipzig denkt Ausdruck. Wie lief es aus Ihrer Sicht?

Sehr unterschiedlich. Einige Formate gingen gut auf, da bekamen wir Lob dafür, dass es wirklich zur Sache ging. Andere waren schlecht besucht. Und ich habe eine Diskussion an einem Punkt abgewürgt, an dem es gerade spannend wurde, weil ich den Gast danach noch drankommen lassen wollte … Wir haben also viel gelernt, und darum ging es auch.


Leipzig denkt wird also auf jeden Fall im nächsten Jahr wieder stattfinden?

»Auf jeden Fall« schon mal nicht. Wir haben die ersten Anträge gestellt, aber ob wir es wieder gefördert bekommen? Es gab erste positive Signale, wir werden sehen.


Der mediale Philosophieboom der letzten Jahre dürfte Sie freuen. Oder sehen Sie in Richard David Precht & Co. eher etwas Verwässerndes?

Ich finde das abstrakt total gut. Der Diskurs hat sich doch verbessert dadurch, dass es zum Beispiel das Philosophie Magazin gibt, ist vielfältiger geworden. Vor zwanzig Jahren gab es Sloterdijk und das war’s. Als wir das erste Philosophie-Festival 2011 in Halle am Theater veranstaltet haben, gab es in Ostdeutschland überhaupt keine Öffentlichkeit für Philosophie. An Precht scheiden sich natürlich die Geister und ich finde auch nicht gut, wie sich das entwickelt hat, dass er mittlerweile zu allem was zu sagen hat. Aber dass es jemanden gibt, der die Philosophie in den öffentlichen Raum bringt, ein paar Theorien nennt und die im Großen und Ganzen auch richtig wiedergibt, ist doch gut. Das ersetzt natürlich nicht die akademische Philosophie im Elfenbeinturm, die braucht es weiterhin. Aber mein Ansatz war immer, die Philosophie da auch rauszuholen, den Diskurs einer Stadt auch mitzugestalten. In Magdeburg haben wir damals im Forum Gestaltung – einem wichtigen Kunstort der Stadt – im Rahmen der Kulturhauptstadt-Bewerbung eine Gesprächsreihe gemacht und versucht, die Leute von der Uni sozusagen rauszuholen.


Und wie finden die das da im Elfenbeinturm?

Das hängt ganz von konkreten Personen ab. Aber generell hat sich das schon geändert – man muss sich ja nur mal anschauen, wer sich alles im Philosophie Magazin zu Wort meldet. Aber klar, die Philosophie steht auch an den Unis unter Sparzwängen: Wir müssen uns im öffentlichen Raum artikulieren und sichtbar werden, sonst werden wir weggespart. Und auch wenn das ein bisschen ein doofes Wort ist – der Philosoph als Bedenkenträger –, glaube ich, dass die Welt das schon auch braucht, dass wir, die Philosophen, uns einmischen. Man muss dafür ja nicht gleich engagierter Intellektueller sein.


Noch mal zurück zu Rainer und Kurt: Wie läuft das eigentlich organisatorisch zwischen den beiden?

Mein Ideal ist es, wenn diesen beiden Ichs zur Deckung kommen. Aber ich habe natürlich diese Kunstfigur und die setze ich ein. Wenn ich einen philosophischen Salon mache, switcht das – dann habe ich zwar das Hemd an, aber nicht die Kappe auf, und kann mit den beiden Welten spielen, als theatrales Element, um das Publikum zu erreichen. Wenn die Diskussion zum Beispiel festgefahren ist, ziehe ich ein Absperrband durch den Raum und sage, dass jetzt zehn Minuten lang die eine Hälfte der Leute dafür und die andere dagegen argumentiert, völlig unabhängig von ihrer eigenen Meinung. Solche Interventionen macht dann eher die Kunstfigur, die einen andere Sachen machen und sagen lässt. Aber der Witz ist, dass man dann tatsächlich andere Sachen tut, auch wenn man nicht diese Kunstfigur ist. Jeder Performer, der lange genug dabei ist, ist auch im Leben anders.


Wir fragen deshalb, weil Sie sich ja sowohl als Rainer Totzke wie auch als Kurt Mondaugen öffentlich zu den Geschehnissen am Tag X geäußert haben.

Der Text von Kurt Mondaugen ist ein literarischer. Ich hätte auch authentisch erzählen können, was ich an dem Tag erlebt habe. Aber das wollte ich nicht, ich wollte das irgendwie verarbeiten, mit künstlerischer Freiheit und dem Spiel mit Erlebtem und Erfundenem – und dann war es keine Frage, dass ich das unter dem Namen Kurt Mondaugen mache.


Sie sind in diesem Fall ja nicht nur als der Philosoph Rainer Totzke und der Literat Kurt Mondaugen, sondern auch, wenn nicht vor allem, als Privatperson, als Vater betroffen: Ihr Sohn wurde im Polizeikessel bewusstlos geschlagen, kam erst nach Stunden ins Krankenhaus.

Das war tatsächlich krass. Wir haben an dem Tag das nächste Festival vorbereitet und da hat jemand gesagt: »Na ja, es darf nicht irgendwas werden, wo alle sich auf die Schulter klopfen. Wir müssen was riskieren und warum machen wir eigentlich so was?« Ich wusste zu dem Zeitpunkt gar nicht, was grad mit meinem Sohn passiert, aber da standen die ganzen Wasserwerfer am Bundesverwaltungsgericht, die wir aus dem GWZ gesehen haben, und ich hab gesagt: »Ich mache das, weil ich nicht möchte, dass es zum Bürgerkrieg kommt! Also als Impuls für Gespräche zwischen allen möglichen Leuten.« So, und das sagst du theoretisch – und dann betrifft es dich persönlich! Und wie reagierst du jetzt? Ist immer noch alles ausgewogen oder bist du plötzlich total einseitig? Wo hältst du jetzt die Fahne hoch? Mit wem bist du kritisch solidarisch? Das Wort kritisch ist mir ja total wichtig. Mich mit den Traumata oder dunklen Dinge in meinem Leben schriftlich auseinanderzusetzen ist meine Art, damit umzugehen und klarzukommen. Als ich dann aber erfahren habe, was passiert ist – dass mein Sohn bewusstlos dalag, dann stundenlang nicht abtransportiert wurde von der Polizei –, war mir klar: Ich muss mich jetzt engagieren! Ich muss meinem Sohn zeigen, dass ich für ihn da bin und dass man in diesem Staat etwas machen kann gegen polizeiliches Fehlverhalten. Für die Connewitzer alternative Szene ist ja ganz klar: Polizei, da ist nichts zu erwarten! Da ist der Subtext, dass alle Polizisten Nazis oder so was sind. Aber bei diesem latenten, undifferenzierten »alle« weiß ich nicht, wo das hinführen soll. Natürlich braucht es eine absolute Veränderung der Polizei-Ausbildung und -Kultur, aber wenn du viele Erfahrungen gemacht hast, sedimentiert sich das in so einer Wand, und die will ich nicht.


Haben Sie sich mit diesem Thema jetzt erstmals oder auch schon vorher beschäftigt?

Ich habe das als gesellschaftlich interessierter Mensch immer verfolgt – im kreuzer zum Beispiel, und dann hat Aiko Kempen dieses Buch geschrieben (»Auf dem rechten Weg? Rassisten und Neonazis in der deutschen Polizei«, Europa-Verlag 2021, Anm. d. Red.). Es war nie mein Hauptthema als Philosoph. Aber wenn es dich persönlich betrifft … Ich hab jetzt natürlich bisschen was dazu gelesen. Was ich wirklich gern machen würde, wäre: hier an der Polizeischule ein Seminar geben. Wenn sich der Innenminister bei mir entschuldigt, dass er in die Kamera gelogen hat, sag ich ihm, dass das für mich eine Entschädigung wäre (Armin Schuster hatte im MDR behauptet, es liege keine einzige Anzeige gegen die Polizei wegen des Kessels am Tag X vor, obwohl Totzke zu diesem Zeitpunkt bereits Anzeige erstattet hatte, Anm. d. Red.). Und eine Performance würde ich machen, wo alle Akteure auf der Bühne sind. Das kann natürlich total aus dem Ruder laufen, aber ich mag solche kritischen Sachen. Auch jetzt mit den Leuten von Eltern gegen Polizeigewalt habe ich Differenzen: Wir haben neulich ein Plakat gemalt und ich hab gefragt: Muss das Alpaka jetzt auf die Polizei spucken? Das ist mir nicht dialogorientiert genug. Ich habe nicht die Lösung für das Problem, aber ich habe Interesse daran, dass es in einen öffentlichen Diskurs kommt, wo das miteinander besprochen wird.


> Der Text von Kurt Mondaugen zum Tag X

> Lesebühne Schkeuditzer Kreuz: 18.10., 20 Uhr, Werk 2, Halle D

> »Du musst dein Leben ändern!? – Zur Revolution unserer Weltbeziehungen: Impulse, Gespräche, Interventionen« mit Hartmut Rosa (Uni Jena) zur Langen Nacht der Philosophie, 17.11., 19 Uhr, Budde-Haus


Biographie

Rainer Totzke wurde 1966 geboren, wuchs in Schönebeck (Elbe) auf und lebt seit 1988 in Leipzig. In den neunziger Jahren schrieb er seine Abschlussarbeit in Journalistik über Heidegger und war großer Foucault-Fan, aktuell liest er wieder intensiv Richard Rorty und Hans Jonas.


Kommentieren


0 Kommentar(e)