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Kultur

Sensibilisierung als künstlerische Arbeitsgrundlage

Das Impuls-Festival für Neue Musik in Sachsen-Anhalt war dieses Jahr erstmals in Leipzig zu Gast – mit außerkünstlerischem Überbau

  Sensibilisierung als künstlerische Arbeitsgrundlage | Das Impuls-Festival für Neue Musik in Sachsen-Anhalt war dieses Jahr erstmals in Leipzig zu Gast – mit außerkünstlerischem Überbau  Foto: Ragnhild May

Ab und zu geht das Licht an, ein Jahr ist verstrichen. Klimadaten einer Forschungsstation im finnischen Dauerfrostboden sollen in elektronische Klänge transformiert und in dieser Performance sinnlich erlebt werden. Die aufgezeichneten Klimadaten umfassen einen Zeitraum von 20 Jahren, die hier innerhalb einer Stunde im Zeitraffer abgespielt werden. Die Anwesenden sitzen dabei im Dunkeln um einen Tisch und werden theatralisch aufgefordert, ein Blatt Papier periodisch zu zerknüllen und zu glätten, um die Aufmerksamkeit auf die langsam fortschreitende und irreversible strukturelle Veränderung des Materials zu richten: Sich auf dem Papier neu ergebenden Wege und Linien können dann bewusst ertastet und erfühlt werden. Über die Dauer der Performance glaubt man sich in einem klanglichen Kontinuum zu befinden. Dass jedoch eine gravierende Veränderung innerhalb dieser Zeitspanne passiert sein muss, wird klar, als am Ende der Performance die Klänge auf das Soundspektrum vom Beginn der Messdaten zurückspringen. Eine eindrucksvolle Idee, die jedoch im Gewand einer esoterischen Seance daherkommt. – Die interaktive Performance des Sono Choreographic Collective in der Galerie für Zeitgenössische Kunst war einer der Höhepunkte des Impuls-Festivals für Neue Musik in Sachsen-Anhalt. Die GfZK in Sachsen-Anhalt? Nein, das Festival ist in diesem Jahr expandiert und war am 13. und 14. Oktober erstmals in Leipzig zu Gast – unter dem Namen »Impuls 2023xFZML«. Hintergrund dafür ist der Förderstopp der Stadt Leipzig für das hiesige Forum für Zeitgenössische Musik (FZML). Die künstlerischen Leiter des Impuls-Festivals – Hans Rotman und Julian Rieken – haben das FZML symbolisch aufgenommen und gezeigt, was es in Zukunft sein könnte: Unter dem Motto »No time like the Present« untersuchte das Musikfestival Handlungsspielräume in den dringenden Fragen unserer Zeit wie dem Klimawandel.

Während in Magdeburg und Halle auch in diesem Jahr Sinfoniekonzerte und Theater-Formate zu erleben waren, hatte der Leipziger Programmteil die Anmutung eines genreoffenen Kunstfestivals mit deutlichem Generationenwechsel –  damit liegt »Impuls 2023xFZML« nicht nur namentlich im Trend: Auch andere Musikfestivals öffnen ihre Strukturen und integrieren Symposien, Vorträge, Workshops und Interaktionen. Das Bedürfnis nach Positionierung zu Zeitfragen ist stark und Arbeiten und Prozesse in dieser Richtung wollen sichtbar gemacht und unterstützt werden. Für die geladenen, in Workshops und Aktionen zusammenarbeitenden Kunstkollektive wurde das Festival zu einem kleinen internationalen Forum für Austausch und Begegnung. Diese »kuratierten Gemeinschaften« (Zitat von Julian Rieken) scheinen mit der Idee der anderen angestrebten Öffnung des Festivals – nämlich der hin zu einem möglichst breiten Publikum – jedoch nicht ohne weiteres vereinbar. Für Besucherinnen und Besucher von außen erinnerte das Festival in Leipzig am ehesten an eine lose bestückte, etwas hippieeske Dokumenta. Bespielte Orte waren der Botanische Garten mit mehreren Video- und Soundinstallationen zum Thema Ressourcen und die Galerie für zeitgenössische Kunst sowie die Techne Sphere.

Bereits im Programmheft wurde deutlich, dass eine umfassende Sensibilisierung, auch im zwischenmenschlichen Austausch, sowie die Gleichberechtigung aller Beteiligten eine grundlegende Rolle im Selbstverständnis der Kollektive und als Arbeitsgrundlage spielen sollten. Am Samstag fanden in diesem Sinne verschiedene Acts auf dem Gelände der Techne Sphere statt. Achtsamkeit, das Miteinander der Anwesenden, auch die Erholung in einem eigens dafür (jedoch etwas lieblos gestalteten) »Low sensory Space« und ritualisierte gemeinsame Mahlzeiten bildeten hier Schwerpunkte.

Mit Decay war eine bemerkenswerte und in diesem Rahmen fast klassisch zu nennende künstlerische Position auf der Techne Sphere zu sehen. Eine von Kurator Julian Rieken initiierte Klanginstallation zum Thema Atommüll, die sich mit radioaktiven Zerfallsprozessen und den unvorstellbar langen dafür benötigten Zeiträumen auseinandersetzt. Das Kunstwerk ist auf eine Dauer von 20.402 Jahren angelegt.

Das Festival endete am Samstagabend mit zwei Musikacts in Halle 9 auf der Techne Sphere: Die aus Kairo stammende Yara Mekawei war mit Soundcollagen zu hören. Hier waren am Ende um die 80 Leute zusammengekommen, die inzwischen darauf warteten, tanzen zu dürfen. Das geschah dann sehr ausgelassen zur Musik von Sonic Interventions, die sich in einem Spektrum von psychedelisch bis wild über Afro basierten Beats bildete.

Dass Leipzig in dieser Form in den Diskurs eingebunden wird, ist gut. Neue Musik und inspirierende Kunstwerke dürften es dabei aber gern mehr geben.


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