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Kultur

Rückzug statt Streit

Unruhe beim Literarischen Herbst wegen Auftritt von Alice Schwarzer - Ein Kommentar

  Rückzug statt Streit | Unruhe beim Literarischen Herbst wegen Auftritt von Alice Schwarzer - Ein Kommentar  Foto: Gert Mothes

Der Literarische Herbst verliert fünf Festivalveranstaltungen, eine Partnerbuchhandlung und ein Teammitglied – wegen einer Lesung mit Alice Schwarzer. Ein Kommentar von Alexandra Huth.

Das Editorial im Programmheft haben sie noch zu dritt unterzeichnet, inzwischen gehören zum Organisationsteam des diesjährigen Literarischen Herbstes nur noch zwei von ihnen: Nils Kahlefendt und Anja Kösler. Jörn Dege hingegen hat »nach einem intensiven internen Austausch« beschlossen, »sich für dieses Jahr aus der Durchführung des Festivals zurückzuziehen«, wie es in einem Statement auf der Website des Literarischen Herbstes heißt.

Grund ist eine Veranstaltung mit der Journalistin und Publizistin Alice Schwarzer, die beim Festival ihren autobiografischen Doppelband »Mein Leben« vorstellen wird. »Es gibt wohl kaum eine Person des öffentlichen Lebens in Deutschland, die über Jahrzehnte in einem solchen Ausmaß Bewunderung und Kritik erfahren hat«, heißt es dazu im Festival-Programmheft. Was den Literarischen Herbst jetzt angeht, steht die Kritik im Vordergrund. Denn nicht nur Jörn Dege hat sich vorerst zurückgezogen.

Auch die Verantwortlichen der Magazine Edit und Hot Topic haben wegen Schwarzers Auftritt ihre Veranstaltungen aus dem Festival-Programm nehmen lassen. Dies betrifft drei Veranstaltungen der Edit (die Releaseparty der Ausgabe 89/90, das Jubiläumsprogramm »Labyrinth/Archiv: Material/Quellen« und die zum Essaypreis), die Hot Topic-Hot-Night. Auch die Literaturshow »Die schlecht gemalte Deutschlandfahne« steht nicht mehr im Festivalprogramm. Alle fünf Veranstaltungen finden wie geplant statt, aber nicht mehr unter dem programmatischen Dach des Literarischen Herbstes. Zusätzlich hat sich die Buchhandlung Rotorbooks aus der ursprünglich verabredeten Buchhandelspartnerschaft zurückgezogen.

»Schutz der persönlichen und politischen Integrität«

Es sind »Alice Schwarzers Äußerungen zu Transidentität sowie ihr öffentliches Reproduzieren rassistischer Stereotype«, mit denen die Verantwortlichen der Literaturzeitschrift Edit ihren Rückzug begründen. »Wir vertreten den klaren Standpunkt, dass wir als sexpositives Literaturmagazin nicht in einem Programm neben Alice Schwarzer stehen wollen und können. Wir lehnen ihre menschenfeindlichen Aussagen konsequent ab. Wir müssen hier ganz klar an die Menschen denken, die uns ihre Texte anvertrauen, müssen an unsere Leser:innen und auch an uns denken, die unser Release in einem für alle Menschen sicheren Rahmen feiern wollen«, heißt es vonseiten der Hot Topic.

Konkrete Äußerungen Schwarzers nennen die Verantwortlichen von Edit und Hot Topic dabei nicht. Ein Beispiel für Schwarzers (nicht nur) hier kritisierte Äußerungen: In ihrem gemeinsam mit Chantal Louis herausgegebenen Buch »Transsexualität. Was ist eine Frau? Was ist ein Mann? Eine Streitschrift« aus dem letzten Jahr führt Schwarzer Transgeschlechtlichkeit auf Orientierungslosigkeit angesichts der sozialen Geschlechterrollen zurück und spricht sich gegen das geplante Selbstbestimmungsgesetz aus, das die Änderung des Geschlechtseintrags und der Vornamen im Personenstandsregister vereinfachen soll.

Die Verantwortlichen der Edit möchten laut ihrem Statement ihre Gäste »davor schützen, in eine Position zu kommen, in der sie ihre persönliche und politische Integrität durch die Teilnahme an unserer Veranstaltung gefährdet sehen.« Ob nun genau das der Fall wäre, wenn an einem anderen Tag in einer anderen Location ein (mit hoher Wahrscheinlichkeit) gänzlich anderes Publikum innerhalb des Festivals den Lebenserinnerungen und, ja, sicher auch den dubiosen Standpunkten Schwarzers lauscht, sei dahingestellt.

Jörn Dege hatte vor seinem Austritt dafür plädiert, die Lesung mit Schwarzer abzusagen, »um Betroffene zu schützen und Schaden vom Festival abzuwenden« Da die Lesung aber im Programm bleibt, stellt sich die Frage, ob es unter diesen Umständen nicht aussagekräftiger gewesen wäre, den Platz innerhalb des Festivals eben nicht zu räumen, sondern die Botschaften der Statements im direkten Austausch zu vertreten. In einem Offenen Brief vom 17. Oktober fordern »33 Autor*innen und Künstler*innen« die Festivalleitung auf, die Veranstaltung  abzusagen. Darunter sind auch Svenja Gräfen, Co-Moderatorin der »Schlecht gemalten Deutschlandfahne« und Linn Penelope Rieger, Geschäftsführerin der Edit, die im Literarischen Herbst nach wie vor die Veranstaltung »Beste erste Bücher« moderiert und Teil der Gemeinschaftslesung »Du hast eine neue Freundschaftsanfrage« ist. Der Offene Brief fragt unter anderem: »Ist sich der Literarische Herbst bewusst, welches Publikum damit angesprochen wird?«.

Verbliebenes Organisationsteam verteidigt Schwarzer-Veranstaltung

Daraus ergeben sich allerdings weitere Fragen, die teilweise zurückprallen: Können denn die 33 Unterzeichnenden zuverlässig voraussagen, wer die Schwarzer-Lesung besuchen wird – und falls ja, warum tun sie es nicht? Was hier lediglich empört angedeutet wird, ist, dass sich in der Stadtbibliothek (die – obwohl Kooperationspartner des Festivals bei der Schwarzer-Lesung –, genau wie die Stadt Leipzig bisher von Kritik unberührt zu bleiben scheint) »die anderen« zusammenfinden werden – jene, die nicht die »richtigen« Ansichten haben und mit denen zu debattieren zwecklos ist. Sicher wäre der Versuch, Alice Schwarzer selbst über das aktuelle wissenschaftliche Fundament von Transidentität aufzuklären, nicht von Erfolg gekrönt. Inwiefern zeugt es aber von reflektierter Weltoffenheit, eine Gruppe von Menschen vorzuverurteilen, die Schwarzer möglicherweise in ihrer Rolle als Journalistin und Kult-Feministin sehen möchte und mit der man sich über die (definitiv nicht unterstützenswerten) Narrative Schwarzers austauschen könnte? Dass die Unterzeichnenden sich von einer Person und Veranstaltung distanzieren wollen, die im Zusammenhang mit menschenfeindlichen Inhalten steht, ist verständlich. Andererseits werden durch solche Reaktionen die Abgrenzungen zwischen den gesellschaftlichen Lagern schärfer, die Mauern in den Köpfen und Kommentarspalten höher.

Um die Sicherheit der Edit- und Hot Topic-Besucher und Besucherinnen steht es jedenfalls genau wie vor dem jeweiligen Austritt, denn wie soll nun garantiert werden, dass sich niemand zu den Veranstaltungen der beiden Magazine begibt, der auch Schwarzers Lesung besucht hat? Wäre nicht eigentlich genau das eine wünschenswerte Gelegenheit, festgefahrene Standpunkte wieder aufzulockern? Wer es vorhatte, ist spätestens jetzt abgeschreckt.

Nils Kahlefendt und Anja Kösler verweisen auf die Errungenschaften Schwarzers als Publizistin und Feministin und argumentieren weiter, dass eine Absage der Lesung »das Festival erst recht beschädigen würde«. Auf Nachfrage präzisiert Kahlefendt, dass das Festivalprogramm »für die gesamte Stadtgesellschaft mit all ihren Spannungen und Widersprüchen geplant« sei. »Mit Diskurs-Ausschlüssen würden wir zudem Wasser auf die Mühlen jener gießen, die von ›verengten Meinungskorridoren‹ sprechen und dabei oft genug ihre ganz eigenen Ziele verfolgen.«

Das Organisationsteam des Literarischen Herbstes wolle nicht nur die eigenen »ästhetischen und politischen Überzeugungen« abbilden, sondern einen Plural an Positionen zeigen und also auch schaffen. Im zweifellos kritischen Fall Alice Schwarzer wäre dies vielleicht besser gelungen, wenn die Schwarzer-Veranstaltung nicht von ihrem langjährigen Lektor und Verleger Helge Malchow moderiert würde, sondern von einer Person, die Schwarzer auf der Bühne der Stadtbibliothek zu eben jenem Diskurs herausfordern würde, den der Literarische Herbst mit seinen Veranstaltungen ermöglichen will.

So bleibt festzuhalten, dass ein gemeinsames (Programm-)dach nicht automatisch bedeutet, dass die Menschen darunter für dieselben Positionen einstehen oder die teilweise inakzeptablen Ansichten ihrer »Mitbewohnerinnen und Mitbewohner« billigen – und dass es dem Publikum des Literarischen Herbstes zuzutrauen gewesen wäre, diese Beobachtung selbst zu machen.

Transparenzhinweis: Nils Kahlefendt schreibt gelegentlich für den kreuzer, Linn Penelope Rieger tut dies ebenfalls und war bis zu diesem Frühjahr Literaturredakteurin des kreuzer.


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1 Kommentar(e)

tutnichtnot 27.10.2023 | um 09:34 Uhr

cancel culture at its best "du denkst nicht so wie ich, also darfst du nicht mit mir auf nem programmheft stehen." mir gehen die übersensiblen kulturschaffenden auf den keks. sie scheinen jegliche fähigkeit zu verlieren, über tellerränder zu schauen oder toleranz gegenüber anderen meinungen zu pflegen. mir gefällt wie der artikel kritisch die problematik beschreibt.