Was genau macht eine Freundschaft aus? Wie lang muss sie schon bestehen? Kann man nur dann befreundet sein, wenn man sich schon mal in die Augen gesehen hat? Mit diesen Fragen beschäftigen sich sechs Autorinnen aus den Niederlanden, Flandern und Leipzig.
Sholeh Rezazadeh und Kaška Bryla, Nadia de Vries und Linn Penelope Rieger sowie Aya Sabi und Marlen Hobrack bilden drei Pärchen, die sich seit Kurzem Briefe schreiben. An diesem Abend im UT Connewitz begegnen sich fünf von ihnen zum ersten Mal persönlich, Kaška Bryla ist krank und kann leider nicht da sein.
Dieses literarische Experiment soll auch neugierig machen auf den Gastlandauftritt Niederlande und Flandern auf der Leipziger Buchmesse 2024. Bettina Baltschev und Margot Dijkgraaf, die Kuratorinnen des Gastlandauftritts, führen durch den Abend. Auf der warm ausgeleuchteten Bühne des alten Lichtspieltheaters fragen sie gut gelaunt ins Publikum: Wer habe hier einen Account bei Facebook, bei Instagram? Viele heben die Hand. Und wer schreibe heute noch richtige Briefe? Es sind gar nicht so viele Hände, die verschwinden, vielleicht hat sich hier ein Geheimbund der Briefeschreiberinnen und -schreiber zusammengefunden.
Die Autorinnen lesen ihre Briefe vor oder lassen die Übersetzungen vorlesen. Es sind persönliche, nachdenkliche Texte, diese ersten Briefe, in denen es noch gar nicht so sehr um Freundschaft geht, sondern darum, einander kennenzulernen und herauszufinden, was geschrieben werden muss, damit die andere Person versteht. Rieger und de Vries tauschen sich über Kindheitserinnerungen aus, frühere Brieffreundschaften und die Hoffnung, einen Seelenverwandten zu finden, jemanden, »dem ich alles erzählen könnte und dem ich nie begegnen müsste«, schreibt Rieger. De Vries erinnert sich in ihrem Antwortschreiben, dass sie als Kind als Einzige in ihrem Viertel Englisch verstand, eine Superkraft und eine Sprache, in der sie mehr Selbstbewusstsein empfunden habe als im Niederländischen. Autorinnen und Moderatorinnen sind sich einig: Man fühle sich in jeder Sprache ein bisschen anders, verfalle automatisch in andere Tonlagen.
Sholeh Rezazadeh scheint dem Thema Freundschaft eher skeptisch gegenüberzustehen. Echte Freundschaft sei für sie das Gefühl, bei jemandem zu Hause zu sein. Sie stammt aus dem Iran, ist 2015 in die Niederlande gezogen, 2021 erschien ihr Debütroman – auf Niederländisch. In puncto Freundschaft hat sie der Umzug in ein Dilemma gestürzt: Echte Freundschaften in Amsterdam zu schließen, würde für sie bedeuten, die letzten Brücken zur Heimat abzubrechen. Als sie gefragt wird, wie es ihren Freundinnen im Iran angesichts der aktuellen Situation gehe, sagt sie: »Ich fühle den Schmerz, der Schmerz ist aber nicht neu.«
Aya Sabi und Marlen Hobrack waren unschlüssig, ob sie sich vor dem ersten Briefkontakt erstmal gegenseitig googlen sollten. Hobrack habe sich dann entschieden, lieber die Person über sich selbst sprechen zu lassen. In ihrem ersten Brief an Sabi, den sie viel zu spät begonnen habe, am Tag der deutschen Einheit (»Ich bin also jetzt schon eine unzuverlässige Brieffreundin«), schreibt sie über Ostdeutsche, die die Einheit als unvollständig betrachten, über frühere Schriftsteller, die sie um ihre auf Papier gebannten Briefwechsel beneidet – so ein Brief sei eben viel verbindlicher als eine Chatnachricht. Auch Sabi hat nicht gegooglet, sie betrachtet den Briefwechsel als »sicheren Ort, an dem wir landen können und Marlen und Aya sind«.
Es sind vorsichtige, feinfühlige Gespräche, die in diesen ersten Briefwechseln entstanden sind. Da schreiben Autorinnen, aber in erster Linie Menschen, die sich angesichts der noch fremden Brieffreundin in ihr Inneres wenden und sich fragen: Was möchte ich sagen? Was macht mich wirklich aus? Im Februar werden sich die sechs Autorinnen in Rotterdam und Antwerpen wiedertreffen und im März gemeinsam auf der Buchmesse Leipzig auftreten. Vielleicht sind sie bis dahin tatsächlich Freundinnen geworden. Und vielleicht haben die Menschen, die ihnen zugehört haben, bis dahin auch mal wieder zum Stift gegriffen und einen Brief abgeschickt, in dem keine Rechnung, kein behördliches Schreiben steckt. Sondern ein wohlüberlegter Text, ein Stück ihrer selbst, das zu Papier zu bringen sie vielleicht Stunden gekostet hat und doch keine Zeitverschwendung war.
Transparenzhinweis: Linn Penelope Rieger schreibt gelegentlich für den kreuzer und war bis zu diesem Frühjahr Literaturredakteurin des kreuzer.