András Schiff lässt das Publikum an seinem täglichen Morgenritual teilhaben. Er eröffnet die Matinee mit einem Blick ins Bach-Universum. Gleichzeitig schließt er damit den Kreis zu Felix Mendelssohn-Bartholdy, der seinerzeit die Renaissance von Johann Sebastian Bachs Musik einleitete, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts nahezu vergessen war.
Auf Präludium und Fuge in C-Dur aus dem ersten Band des Wohltemperierten Klaviers folgt das Capriccio B-Dur BWV 992 (über die Abreise seines geliebten Bruders), eine weltliche und auch etwas verspielte, kurze Programmmusik des 19-jährigen Bach. Im Anschluss erklingt die französische Suite in G-Dur BWV 816 in der für Schiff typischen Manier, leicht und gelassen ausströmend, filigran ornamentiert. Nach dem Abschlusssatz überrascht Schiff mit einer kleinen Gigue von Mozart: 1789 als Hommage an Bach geschrieben, wirke KV 574 in seiner harmonischen Dichte wie »eine Vorahnung von Zwölftonmusik, nur schöner«, kommentiert er.
Das Benefizkonzert zu Gunsten des Leipziger Mendelssohn-Hauses am Sonntagmorgen ist ein Überraschungskonzert. Überaus verbindlich gegenüber dem Publikum moderiert Schiff ein Programm, das er erst im Zusammenspiel von Repertoire, Instrument und Saal vor Ort endgültig habe bestimmen wollen. Mitgebracht hat er seinen Blüthner Konzertflügel, ein Leipziger Fabrikat aus dem Jahr 1859. Bedauerlich sei die mit der Globalisierung einhergehende Gleichschaltung der allgemeinen Klangvorstellung. Die Marke Steinway stehe heute synonym für den Klang eines Klaviers, konstatiert Schiff. Der historische Flügel entpuppt sich in diesem Zusammenhang als überaus spannende Alternative zu dieser ästhetischen Einengung und vor allem als Eröffnung interpretatorischer Freiräume.
In Schumanns Davidsbündlertänzen op. 6 von 1836/37 bringt die Verbindung von Repertoire und Instrument unerhörte Wirkungen hervor: Fluktuierende Vielfarbigkeit erfüllt die sich überkreuzenden und einander überlagernden Gedanken in den übermütigen, lachenden, andernorts melancholisch sinnierenden Charakterstücken Schumanns. Spiegel seiner innerlich widerstreitenden Seelen Florestan und Eusebius. »In einer immer unpoetischeren und sachlicheren Welt« empfinde er diese Musik als Balsam für die Seele, so Schiff, dessen Spiel an diesem Morgen außergewöhnlich unmittelbar wirkt. Den im Verhältnis zum modernen Flügel schlankeren und fragileren Klang des Instruments mit deutlich verschiedenen Registern, lenkt er bei Schumann auch in heterogenere Richtung, heraus aus jeder vermeintlichen Selbstverständlichkeit und Glätte.
Der zweite Teil des Konzerts beginnt mit Mendelssohns Variations sérieuses op. 54. Schiff selbst halte Mendelssohn neben Haydn für den meistunterschätzten Komponisten der Musikgeschichte. Die Popularität, die er in Leipzig genieße, sei hocherfreulich, leider aber ungewöhnlich. Hier entlockt Schiff dem Flügel das homogenste und ausgewogenste Klangbild des Konzerts und betont damit den klassizistischen Aspekt in Mendelssohns Musik. Am Schluss des Leipzig-Programms steht Beethovens »Sturmsonate« op. 31 Nr. 2 aus dem Jahr 1802. Obgleich Beethoven kein Leipziger ist, seine Musik war richtungsweisend und prägend, auch für Mendelssohn. Man müsse die Pedalbezeichnungen von Beethoven ernst nehmen und auch seine Tempoangaben, mahnt Schiff an und erläutert damit einige seiner interpretatorischen Entscheidungen. So bleiben fragend unaufgelöste Klangwolken in den rezitativischen Einwürfen des ersten Satzes in Erinnerung. Und auch der dritte Satz erscheint in seinem wörtlich genommenen Allegretto-Tempo, wesentlich langsamer als üblich, vor allem tief melancholisch und Beethoven als der vielleicht romantischste Romantiker dieses Vormittags.
In seinen prägnanten und dem Publikum zugewandten Kommentaren stiftet der 69-jährige Schiff subtile gedankliche Verbindungen zwischen Realität, (Musik-)Geschichte, unmittelbarem Hörerleben und Verantwortungsgefühl gegenüber einer Schönheit, die sich nicht zuletzt in Leipzigs Musikschätzen speichert. Dankbarkeit für einige Stunden auf einer glücklichen Insel zollt ihm das Publikum mit warmem und anhaltendem Beifall.
> Noch bis zum 5. November laufen die Mendelssohn-Festtage. Eine Übersicht der Konzerte und Veranstaltungen gibt es hier