Anette Kersting ist Klinikdirektorin der Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Uniklinik. Aktuell leitet sie eine Studie, die das Erleben von häuslicher Gewalt in Partnerschaften untersucht. Der Fragebogen dazu beruht auf einer Studie, die 2019 Stigmatisierung in partnerschaftlicher Gewalt in den USA untersuchte. Im Interview erklärt Kersting, wie Stigmatisierung die psychischen Folgen von häuslicher Gewalt verstärkt und welche Ansatzpunkte die Studie liefern kann.
Wie passt ihre aktuelle Studie in das Forschungsfeld der häuslichen Gewalt?
Es gibt bereits eine ganze Reihe an Studien zu dem Thema. Wir wissen zum Beispiel, dass häusliche Gewalt Auswirkungen auf das psychische Befinden hat, Traumata, Depressionen und Angststörungen zur Folge haben kann. Häusliche Gewalt ist ein gesundheitlicher Risikofaktor. Wir konzentrieren uns mit unserer Studie auf das Feld der Stigmatisierung, die oft mit häuslicher Gewalt einhergeht.
Warum ist es wichtig, in diesem Zusammenhang Stigmatisierung zu untersuchen?
Wir sehen schon jetzt, dass Stigmatisierung die psychischen Folgen von häuslicher Gewalt verstärkt. Mit der Studie können wir diesen Zusammenhang nachweisen und besser verstehen, was uns dabei hilft, Ansatzpunkte zu entwickeln, wie man Stigmatisierung vermeiden kann. Sehr wichtig wird die Prävention sein, sowohl bei den Betroffenen als auch dem Umfeld.
Warum verschlimmert Stigmatisierung die Situation für Betroffenen oft noch?
Stigmatisierung hemmt die Betroffenen dabei, sich Hilfe zu suchen und dabei, sich mit dem Erlebten auseinanderzusetzen und es zu bearbeiten.
Ohne Stigmatisierung könnten Betroffene ihre Interessen besser vertreten und ihre Rechte wahrnehmen. Täter müssten sich ihrer Verantwortung stellen und auch das Umfeld wäre vermutlich offener für das Schreckliche, das passiert.
Können Sie genauer erklären, was Sie damit meinen?
Wir unterscheiden zwischen Selbststigmatisierung und Fremdstigmatisierung. Betroffene internalisieren das Stigma oft. Das bedeutet, dass sie denken, sie hätten zu ihrer Situation beigetragen, wären irgendwie daran schuld, dass sie Gewalt erfahren. Solche Gefühle intensivieren das Erleben der Gewalt und die damit verbundene Hilflosigkeit.
Oft erwarten die Betroffenen auch von ihrer Umgebung, abgelehnt zu werden, wenn sie sich öffnen. Auch das führt dazu, dass sie sich weniger Hilfe suchen.
Aber natürlich hat auch die Fremdstigmatisierung einen erheblichen Anteil daran: einerseits durch den Täter, der vermittelt; »Du bist selbst Schuld«, andererseits auch durch die Umgebung, die durch ihr – vielleicht wenig bewusstes – Verhalten ähnliche Botschaften sendet. Das können Freunde sein, aber auch Polizisten oder ein Richter.
Warum haben Sie sich entschieden, eine Online-Studie durchzuführen?
Der Vorteil einer Online-Studie besteht darin, dass wir Menschen in einem großen geographischen Radius erreichen. Für die Teilnehmenden ist der Aufwand relativ gering. Außerdem senkt die Anonymität der Online-Befragung die Hürden, sich offen über die Gewalterfahrungen mitzuteilen. Gerade bei so einem schambehafteten Thema ist das wichtig.
In der Studie werden explizit Menschen aller Geschlechtsidentitäten zur Teilnahme aufgefordert. Warum?
Für uns ist es wichtig, dass möglichst viele Menschen, auch unterschiedlichen Geschlechts, an der Studie teilnehmen. Dann lässt sich am Ende zum Beispiel auch herausfinden, wie häusliche Gewalt und Geschlecht zusammenhängen.
Was soll mit den Ergebnissen passieren?
Unseren Fragebogen haben wir aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt. Mit der Studie validieren wir diesen Fragebogen für Deutschland, so dass er auch für deutschsprachige Untersuchungen verwendet werden kann. Die Studie läuft noch bis Sommer 2024, danach soll sie zeitnah ausgewertet werden. Ich erwarte ab 2025 die Veröffentlichung.
> Hier geht es zur Studie: