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Subbotnik im Spätkapitalismus

Soziales Engagement verdient unseren Respekt: Es ist sinnvoll und erfüllend – zum Ausputzer staatlichen Unvermögens darf es aber nicht werden

  Subbotnik im Spätkapitalismus | Soziales Engagement verdient unseren Respekt: Es ist sinnvoll und erfüllend – zum Ausputzer staatlichen Unvermögens darf es aber nicht werden  Foto: Reiner Pfisterer | Tafel Deutschland e.V.

Ehrenamt: Ehre und Amt, amtliche Ehre – klingt sehr deutsch, ein bisschen gruselig auch, bezeichnet aber etwas gemeinhin höchst positiv Bewertetes: den freiwilligen Dienst am Mitmenschen, die Unterstützung der Schwachen, die Hilfe für Bedürftige, die Förderung des Gemeinwohlinteresses. Und es wirkt sinnstiftend auf jene, die sich ehrenamtlich engagieren.

Allerdings stellt sich beim uneingeschränkten Lob des Ehrenamts ein flaues Gefühl ein, wenn man genauer hinschaut: Denn das Ehrenamt tangiert Felder wie die Abhängigkeit von der Milde anderer, schlimmstenfalls von Charity-Ladys auf Publicity-Tournee, die Freiwilligen als Ausputzer behördlichen Versagens, der Jobabbau und die Demontage des Sozialstaats.

Zwang für die Ehre

Als staatlich halbwegs garantierte Wohlfahrt noch nicht existierte, entstand das Ehrenamt, um soziale Aufgaben zu erfüllen. Eigentlich steckt darin ein Oxymoron: Die Übernahme einer Zwangsaufgabe wird mit Ehre gesellschaftlich vergolten, also positiv aufgeladener sozialer Druck ausgeübt. Ehre fungierte über Jahrhunderte als zentrale Kategorie des sozialen Miteinanders. Sie bedeutete nicht weniger als Geschäftsfähigkeit. Sozial-ethische Normen wie Treue, Aufrichtigkeit, Freundschaft fügten sich zum komplexen Wertesystem, mit dem das Verlangen nach Anerkennung verbunden war. Ehre verbürgte dabei die soziale und ökonomische Kreditwürdigkeit.

Daran knüpft das im 19. Jahrhundert entstandene Ehrenamt als (Selbst-)Verpflichtung des Bürgers an, sich gesellschaftlich zu betätigen. Es entspringt zwei Momenten: der sich herausbildenden bürgerlichen Vereinskultur und der kommunalen Selbstverwaltung. Diese verdankt sich der Preußischen Städteordnung von 1808, die das aufstrebende (männliche) Bürgertum durch Verwalten lokaler Angelegenheiten in den absolutistischen Staat integrieren wollte: Die Bürger waren verpflichtet, öffentliche Stadtämter unentgeltlich zu bekleiden – für die Ehre eben. Rund fünfzig Jahre später kam die Armenpflege als Teil kommunaler Verwaltung zur ehrenamtlichen Aufgabe hinzu. Der Bürger sollte als Nachbar im vertrauten lokalen Umfeld mildtätig wirken. Private Fürsorgekultur und allmählich entstehende Wohlfahrtsverbände existierten lange parallel. Auch wenn die Professionalisierung teilweise die Identifizierung der Ehrenamtlichen mit ihrer Lokalgemeinschaft auflöste, so waren und sind die Institutionen doch auf nicht zu entlohnende Hilfe angewiesen.

Engagement oder Ehrenamt?

Heute ist das klassische Ehrenamt den Zahlen nach rückläufig, dafür ist eine »neue Ehrenamtlichkeit« erkennbar: Menschen engagieren sich vermehrt in Kontexten, die ihrer biografischen Situation, ihrer Selbstverwirklichung und ihren Eigeninteressen entsprechen. Die Ziele sind selbst gewählt und unterliegen weniger einem Verbandsdiktum. Man ist statt in Partei, Verein oder Kirche eher in Initiativen und NGOs, Quartierseinrichtungen oder der Kita der eigenen Kinder aktiv. Oft fällt das Engagement – im Gegensatz zu dreißig Jahren Kassenwart – spontaner, zeitlich begrenzt und projektbezogen aus.

Zeitlich gesehen reicht das von der wöchentlichen einstündigen Schülernachhilfe bis zur Vollzeitaufgabe im Tierheim. Deutlich mehr Männer als Frauen waren bis zuletzt ehrenamtlich engagiert, sie dominieren weiterhin die Bereiche Sport, das Vereins- und Verbandswesen, das politische und berufsbezogene Engagement und prägen auch die freiwillige Feuerwehr und Rettungsdienste. Der geringere Anteil der Frauen erklärt sich durch häusliche Tätigkeiten, Erziehungs- und Familienarbeit, die ihnen noch immer als klassische Rolle zufällt. Das hat sich erst in den vergangenen Jahren ausnivelliert. Ihr Freiwilligenengagement fällt dann – auch typisch – besonders in den sozialen Bereich. Es lässt sich ein soziales Gefälle feststellen: Jene, denen es gut geht, engagieren sich am meisten – Erwerbslose, Geringverdienende und Menschen mit niedrigem Bildungsabschluss weniger. Zufriedene engagieren sich natürlich mehr als diejenigen mit geringem Grundvertrauen in die Gesellschaft und der wenig ausgeprägten Überzeugung, etwas verändern zu können.

Ressource neoliberaler Vergesellschaftung

Ehrenamt setzt die gesicherte Existenz voraus. Wenn es aber als Notanker und Hoffnungsschimmer für den »richtigen« Job fungiert, wird es zur Stütze des Niedriglohnsektors, auf dem ohnehin die Grenzen zwischen Ehrenamt mit Aufwandsentschädigung, Bürgerarbeit und Bundesfreiwilligendienst verschwimmen. Auch ein Verdrängen professioneller Berufe ist zu verzeichnen, wenn beispielsweise auf Job-Portalen für ehrenamtliche Tätigkeiten in der Patientenbetreuung geworben wird.

Offiziell wird weniger vom Ehrenamt als von »zivilem Engagement« gesprochen – und mit diesem als sozialem Kapital der »Bürgergesellschaft« auch gerechnet, wie eine Enquete-Kommission des Bundestags unverblümt formulierte: »Bürgergesellschaft heißt, sich von der Vorstellung der Allzuständigkeit des Staates zu verabschieden, zuzulassen und zu fordern, dass Bürgerinnen und Bürger in größerem Maß für die Geschicke des Gemeinwesens Sorge tragen.« Ehrenamt wird somit zur Ressource in der neoliberalen Vergesellschaftung eigentlich staatlicher Aufgaben: Nach Lese-Omis und Telefonseelsorgern loben Sonntagsreden demnächst vielleicht auch Bürgerwehren.

Milde Gabe statt Anerkennung

Die Rolle der Freiwilligen als Lückenbüßer und Ausputzer wurde bei der Hilfe für Geflüchtete ab 2015 augenscheinlich – wie auch seit letztem Jahr mit der Aufnahme von und Hilfe für Menschen aus der Ukraine. Man kann hier von einer Kommunitarisierung der Asylpolitik sprechen: Die Gewährung beziehungsweise Erfüllung grundgesetzlicher Ansprüche wird auf Menschen vor Ort und deren Empathie abgewälzt. Die Delegierung von Staatsaufgaben ans Ehrenamt ist aber auch in anderen Bereichen im Vollzug. Paradigmatisch zeigt sich der Shift von Grundrecht zum Gnadenbrot an den bundesweit rund tausend Tafeln: Hier besorgen ungefähr 60.000 Ehrenamtliche die Essensausgabe. Bedürftige bekommen so viel, wie gerade da ist. Diese private Hilfe, auf die nicht nur Empfängerinnen und Empfänger des Bürgergelds zurückgreifen, ist zu nichts verpflichtet, weder rechtsverbindlich noch einklagbar, sondern legt selbst fest, was und wem sie zu geben bereit ist. Die Lebensmittelläden, die nicht mehr Verkäufliches spenden, profitieren durch Imagegewinn, vermiedene Müllkosten und Mehrwertsteuererlass auf Lebensmittelspenden. Der öffentliche Haushalt spart, weil der Staat aus der Aufgabe der materiellen Daseinsfürsorge entlassen wird. Die Notleidenden müssen hoffen, dass jemand für sie etwas übrighat und dass die Charity-Ladys und -Gentlemen sich keine anderen Hobbys suchen. Milde und Gabe statt Anerkennung und Anrecht markieren den historischen Rückschritt vom Sozial- in den Suppenküchenstaat.

Lebensmittel der Demokratie

Dabei erweist sich die Vorstellung vom vollständigen Ersatz öffentlicher Aufgaben durchs Ehrenamt ohnehin als illusionär. Die Bereitschaft für soziales Engagement fällt Studien zufolge gerade in Staaten mit ausgebauten Fürsorgesystemen besonders hoch aus. Ein weiterer sozialstaatlicher Abbau mit dem Ziel, Aufgaben bei Ehrenamtlichen abzuladen, wird so nicht funktionieren. Raueres gesellschaftliches Klima ermuntert offenbar keineswegs das selbstaufopfernde Samaritertum. Und klar, angesichts notleidender Menschen ist es für viele Aktive zum Glück selbstverständlich zu helfen, anstatt den Staat auf seine desaströse Politik besonders im Sozial- und Bildungsbereich hinzuweisen. Dafür gebührt ehrliche Anerkennung. Besoffener Freudentaumel über eine angeblich neue Willkommenskultur wie 2015 und 2022 ist hingegen unangebracht. Und Ehrenamt ersetzt keine Kritik an den Zuständen.

Freiwilliges Engagement ist unerlässlich für eine nicht nur funktionierende Gesellschaft, sondern für das gute und vielleicht sogar gerechte Zusammenleben. Es ist auch ein Lebensmittel der Demokratie. Nachbarschaftshilfe und Gemeinschaftsgärten, Reparaturcafés und Bildungswerkstätten versüßen das Miteinander. Vielleicht erwächst daraus auch Druck für mehr, wird Engagement zum Motor für Kritik – wie die Initiativen gegen Zwangsräumung. Nicht selten kam gesellschaftliche Veränderung von unten. Ein Argument für die Privatisierung essenzieller Bereiche der Daseinsfürsorge oder des Ehrenamts als Werkzeug der Mängelverwaltung ist das aber keineswegs – im Gegenteil. Denn sobald sich Freiwillige in Graswurzelprojekten engagieren, verstummt das offizielle Lob des Ehrenamts – es steckt eben doch sehr viel »Amt« in diesem sehr deutschen Wort.


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