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Kultur

Vom Gehen und von Hindernissen

Mit »Schneckenparadies« vollendet Jan Kuhlbrodt seine »Chemnitzer Trilogie«

  Vom Gehen und von Hindernissen | Mit »Schneckenparadies« vollendet Jan Kuhlbrodt seine »Chemnitzer Trilogie«  Foto: Christiane Gundlach

»Die Schnecken klebten wieder an den Ästen der Sträucher unten am Zaun.« – Ums Bleiben und Gehen, um Biotope und Einschlüsse sowie eine Kindheit in Karl-Marx-Stadt dreht sich Jan Kuhlbrodts »Schneckenparadies«. Es ist einer von drei Romanen, die er als »Chemnitzer Trilogie« zusammenfasst, weil sie in der Stadt spielen. Sie thematisieren, wie der Autor wurde, wer er ist – um hier Friedrich Nietzsche mal zu paraphrasieren.

»Schneckenparadies« nennen im Roman Kinder eine Zinkbadewanne. Sie sammeln die Tiere darin, um sie zu begutachten und die Spiralmuster ihrer Häuser zu vergleichen. Strömen die Kinder zum Abendessen weg, befreien sich die Tiere und kriechen dorthin, wo sie sich wirklich wohl fühlen. Das Bild passt zu Kuhlbrodts Lebensschilderungen. Immer wieder wurde er an biografische Stationen durch äußere Kräfte verpflanzt, musste den Interessen anderer folgen – um dann wieder die Möglichkeit zu finden, eigene Wege zu gehen. Bis er das nicht mehr vermochte.

Von dieser Unmöglichkeit zu gehen, handelt Kuhlbrodts 2023 erschienene »Krüppelpassion – oder vom Gehen«, der erste Band der Chemnitzer Trilogie. Darin schreibt der in Leipzig lebende Autor übers Leben mit – oder besser: trotz – Multipler Sklerose. Mehrere Krankheitsschübe musste der durch zunehmende Behinderung leidende Kuhlbrodt schon durchleben, mittlerweile sitzt er im Rollstuhl. »Schneckenparadies« veröffentlichte er bereits 2008 im mittlerweile aufgelösten Leipziger Plöttner-Verlag. Auch »Vor der Schrift« erschien dort vor gut zwanzig Jahren. Beide bilden nun in Wiederauflagen des Berliner Gans-Verlags den Rahmen der Trilogie.

Der 1966 in Karl-Marx-Stadt geborene Kuhlbrodt war bis zu seiner Arbeitsunfähigkeit als freier Schriftsteller tätig. Nachdem er Politikökonomie in Leipzig und Philosophie in Frankfurt am Main studiert hatte, ging er ans Leipziger Literaturinstitut, wo er später als Gastprofessor lehrte. Er war bis 2010 Geschäftsführer der Literaturzeitschrift Edit. Während die mit dem Alfred-Döblin-Preis ausgezeichnete »Krüppelpassion« vor allem von seiner Leipziger Zeit und dem Leben ab den ersten Krankheitssymptomen erzählt, beschäftigt sich »Schneckenparadies« mit der Chemnitzer Schulzeit und dem Studium in Frankfurt.

»Ich weiß nicht, ob Schnecken derart lange Wege zurücklegen, oder ob ihnen nicht ein Hindernis dem Ende ihrer Welt gleichkommt, ob ihnen nicht jeder Ausgang, jeder Übergang nur eine Verlängerung ist, deren Abwesenheit sie gar nicht bemerken würden. Trial and Error.« – Wer die »Krüppelpassion« kennt, stolpert beim Lesen häufig über solche Sätze im »Schneckenparadies«. Diese erscheinen hellsichtig, als ob der Text die später folgende, fortschreitende Einschränkung von Kuhlbrodts Fortbewegung vorausahnt. Vermutlich ist das Projektion. Dem Autor ist das selbst beim Wiederlesen aufgefallen: »Dass Gehen und Weggehen nicht nur als Fortbewegung Motive bei mir sind, erschloss sich mir erst im Nachgang«, sagt Kuhlbrodt im kreuzer-Telefonat. Den »Humus, aus dem das erwachsen ist«, nennt er seine Geburtsstadt: »Ich bin Chemnitzer, bekomme das nicht los. Ich wohne nur in Leipzig.« Darum hat er die drei Bände auch nachträglich zur Trilogie erklärt.

In »Schneckenparadies« berichtet Kuhlbrodt von Reisen im räumlich beschränkten Pseudo-Sozialismus. Er schildert kleine Ausbrüche und große Reflexionen, die er an zwei Personen festmacht, deren Charaktere seinen eigenen spiegeln: Mit Schulfreund Thilo wird er ab 1980 allmählich erwachsen. An der Seite des Kommunarden Bernd paukt er im Studium Kritische Theorie und legt feuchte Revolutionsträume ad acta: Einfache Formeln von Weltfrieden und Völkerfreundschaft sind auch nur Schneckenparadiese.

Es ist unterhaltsam, Kuhlbrodts mit Anekdotischem gespickten Gedankengängen zu folgen. Zumal die Sprache des Autors nicht manieristisch, aber kunstvoll ist. In Chemnitz erlebte er Sigmund Jähn und Waleri Bykowski persönlich, er schrieb über das Pastellige, das die Färberei dem Fluss Chemnitz verpasse, vergleicht die Stadt mit dem Spielteppich eines Riesen, der seinen Klötze-Baukasten auskippt. Besonders der kurze Sommer der Anarchie 1990 liest sich interessant, wenn Kuhlbrodt die Gründung des Leipziger StudentInnen-Rats erlebt: »Es gibt keinen Grund, der DDR nachzutrauern, aber es ist schade um die wenigen Wochen, in denen es sie nicht gab.«


> Jan Kuhlbrodts »Chemnitzer Trilogie«: Vor der Schrift (Berlin: Gans-Verlag 2024, 240 S., 26 €), Schneckenparadies (Berlin: Gans-Verlag 2024, 160 S., 24 €), Krüppelpassion (Berlin: Gans-Verlag 2023, 240 S., 30 €)


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