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Stadtleben

»Es gibt keinen Durchmarsch der extremen Rechten«

Steven Hummel von Chronik.LE über die neue Ausgabe der »Leipziger Zustände«

  »Es gibt keinen Durchmarsch der extremen Rechten« | Steven Hummel von Chronik.LE über die neue Ausgabe der »Leipziger Zustände«  Foto: Christiane Gundlach

Mit der inzwischen neunten Ausgabe der »Leipziger Zustände« dokumentiert und analysiert der Verein Chronik.LE diskriminierende Ereignisse in und um Leipzig. Im Interview spricht Steven Hummel über wachsenden Antisemitismus, die Auswirkungen des Wahljahrs 2024 und darüber, was ihm Angst macht und Hoffnung gibt.


Das neue Heft ziert das Bild eines Anti-AfD-Protests aus dem Januar 2024. Welche Auswirkungen hatte diese Demonstrationswelle denn auf die extreme Rechte?

Wir wollen auf dem Coverbild keine Neonazidemonstration haben, sondern rücken da lieber progressive und positive Bewegungen in den Vordergrund. Die zahlreichen Demonstrationen in Leipzig und Umland im Januar waren ein wichtiger Bezugspunkt, weil sie eine gesamtgesellschaftliche Diskursverschiebung ausgelöst haben. Ich hatte den Eindruck, dass es das erste Mal seit sehr langer Zeit so einen Umschwung gab. Die AfD war vorher immer in der Offensive und konnte auch andere Parteien vor sich hertreiben. Mit der Correctiv-Recherche zum sogenannten Geheimtreffen der AfD in Potsdam und den darauffolgenden Demonstrationen gab es einen Moment, in dem demokratische Kräfte wieder die Oberhand gewonnen haben.

Im Editorial führen Sie erstmals an, dass es in der Redaktion immer wieder zu Diskussionen komme, da manche Aussagen und Positionen nicht von allen Redaktionsmitgliedern geteilt werden. Was hat sich geändert?

Wir haben lange darüber diskutiert, wie wir formulieren und einzelne Kapitel zuschneiden. Und nicht überraschend gab es auch zum Antisemitismuskapitel unterschiedliche Perspektiven und Meinungen. Am Ende haben wir in der Gruppe aber ganz gute Kompromisse gefunden. Ich hätte auch nicht den Anspruch, jeden Text in der Broschüre zu 100 Prozent unterschreiben zu können. Es haben ja auch viele externe Autor:innen Artikel beigesteuert. Wir wollen ja auch nicht wie die K-Gruppen alle auf Linie bringen, sondern möchten Informationen bereitstellen, mit dem sich alle ihre eigene Meinung bilden können.

Um bei den K-Gruppen zu bleiben: Im Kapitel zu Antisemitismus geht es auch viel um linke Bewegungen. Wurde linker Antisemitismus vorher übersehen oder ist er in den letzten zwei Jahren einfach stark angestiegen?

Beides gleichzeitig. Mit dem Terroranschlag der Hamas in Israel am 7. Oktober 2023 haben sich auch in der Region Leipzig Dinge verschoben, die vorher so nicht absehbar waren. Selbstverständlich gab es hier auch vorher schon antisemitische Schmierereien, Anfeindungen und Angriffe. Ich glaube aber, dass sich Quantität und Qualität seitdem nochmal verändert haben. Mit dem 7. Oktober und dem Vorgehen der israelischen Armee in Gaza ist der Antisemitismus ein vereinendes Narrativ geworden, auf das sich sehr verschiedene Leute einigen können und für das es vorher nicht so eine Aufmerksamkeit gab. Wir nehmen stark wahr, dass nicht alle, aber ein relevanter Teil der öffentlichen Verlautbarungen aus dem propalästinensischen Spektrum sich antisemitischer Narrative bedienen oder israelbezogenen Antisemitismus verbreiten. Unser Anspruch ist dabei aber immer, möglichst konkret zu benennen, wenn jemand sich antisemitisch oder rassistisch äußert und zu begründen, warum wir das so einordnen.

Ein Schwerpunkt im Heft ist das Wahljahr 2024 und die Erfolge der AfD. Welche Auswirkungen hatten die Wahlen im letzten Jahr?

Die vielen Wahlen waren schon prägend für das letzte Jahr. In Leipzig gab es für sehr lange Zeit eine rot-grün-rote Stadtratsmehrheit, die gibt es seit der letzten Kommunalwahl nicht mehr. Diese Klimaveränderung zeichnet sich bereits im Leipziger Stadtrat ab. Es gab schon Abstimmungen, in denen CDU und AfD gemeinsam abgestimmt haben. Und es gab den Vorstoß des BSW, Kulturförderungen für unliebsame Projekte einzustellen. Sowohl auf kommunaler als auch auf Landesebene konnten AfD und die Freien Sachsen dazugewinnen. Es gibt aber keinen Durchmarsch der extremen Rechten. Die massiven Zugewinne im Landtag gab es schon zur Wahl 2019. Was jetzt dazugewonnen wurde, ist vergleichsweise moderat. Nichtsdestotrotz gibt es inzwischen viele Kreistage sowie Stadt- und Gemeinderäte in Sachsen, in denen die AfD mittlerweile die größte Fraktion stellt. Das ist auch langfristig eine Veränderung für das parlamentarische Geschehen.

Welche Entwicklung macht Ihnen besonders Angst?

Ich persönlich finde das Erstarken und die Normalisierung der AfD brandgefährlich. Vor allem, weil das für alle sichtbar öffentlich passiert und klar ist, wofür die Partei steht. Die Partei möchte einen völkischen Umbau der Gesellschaft, Millionen Menschen aus Deutschland ausweisen und akzeptiert keine verschiedenen Lebensentwürfe. Dies wird aber nicht adäquat wahrgenommen und dagegen gehandelt. Das macht mir tatsächlich Angst. Ich finde fatal, dass es schon einen vorauseilenden Gehorsam gegenüber der AfD gibt. In der Erwartung, dass die Partei in politische Verantwortung kommt, wollen manche sich lieber nicht zu sehr gegen die Partei positionieren.

Zum Beispiel?

Im Januar findet eine Veranstaltung in Leipzig zum zehnjährigen »Jubiläum« von Legida statt. Als die Organisator:innen auf der Suche nach möglichst repräsentativen Räumlichkeiten dafür waren, kam von einzelnen angefragten Orten die Antwort, man könne jetzt nicht solche politischen Veranstaltungen machen. Immer implizit mit dem Hinweis, man wolle sich lieber nicht zu weit aus dem Fenster lehnen, da man nicht wisse, wie sich die politische Situation entwickeln wird.

Das letzte Heft der Leipziger Zustände schloss mit dem Appell, auch das Utopische nicht aus den Augen zu verlieren. Hat der angestrebte Dialog über gelebte Utopien in Leipzig gefruchtet?

Wie gut es funktioniert hat, kann ich leider nicht beantworten. Aber es ist tatsächlich unser Wunsch. Nichts wäre schlimmer, als wenn Leute unsere Broschüre lesen und danach denken, es lohnt sich gar nicht mehr, sich zu engagieren. Wir wollen eine Grundlage legen, die Menschen dazu motiviert, vor Ort aktiv zu werden.


> Denk Link zur neunten Ausgabe der »Leipziger Zustände« finden Sie hier. 


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