Ob wir wirklich drinnen sitzen möchten, fragt uns die Kellnerin irritiert im Pilot, so sonnig ist der Herbsttag, an dem unser Interview stattfindet. Und als dieselbe Kellnerin unsere Kaffeetassen bringt und nicht mehr weiß, wo Hafer- und wo Kuhmilch drin ist, identifiziert Rebecca Maria Salentin zielsicher die verschiedenen Konsistenzen des Milchschaums. Kein Wunder, schließlich hat die freie Autorin und Moderatorin neun Jahre das Sommercafé Zierlich Manierlich am Richard-Wagner-Hain betrieben. 2019 rief sie dann die interaktive Literaturshow »Die schlecht gemalte Deutschlandfahne« ins Leben, deren vorerst letzte Ausgabe nun im November stattfindet – diesmal mit Salentin als Gast. Denn nach ihrem Reisebericht »Klub Drushba«, in dem sie ihre Erlebnisse auf dem 2.700 Kilometer langen Weg der Freundschaft von Eisenach nach Budapest schilderte, erscheint nun »Iron Woman«.
Warum beenden Sie »Die schlecht gemalte Deutschlandfahne«?
Der administrative und organisatorische Aufwand ist so hoch, dass ich das als Einzelperson nicht mehr stemmen kann. Es macht nach wie vor großen Spaß und wir können uns vor Anfragen kaum retten, aber man bräuchte einen Träger, der die organisatorische Seite übernimmt. Ich hoffe schon, dass sich auf lange Sicht jemand findet, der sagt: Pass auf, ich nehme dich unter unser Dach und du musst dich nur noch auf die Vorbereitung der Show und die Moderation konzentrieren. Aber vorerst findet im November die letzte Ausgabe statt, ja.
Wie kam die Show denn beim Publikum an?
Das interaktive Konzept und der humorvolle Umgang mit seriöser Literatur, das hat ja auch Leute ins Theater geholt, die sonst nicht unbedingt zu Lesungen gehen würden. Ich habe diese Show als Gegenpol zur klassischen Wasserglaslesung entworfen – und das Konzept ist zu 100 Prozent aufgegangen. Dann kam natürlich Corona dazwischen, von den fünf Jahren liefen also zweieinhalb unter erschwerten Bedingungen wie Streaming, Instagram-Talk … Aber wir haben keine einzige Show ausfallen lassen und es war mir dabei besonders wichtig, dass alle Gastautorinnen und -autoren ihr Honorar erhalten. Und erstaunlicherweise wurden auch die virtuellen Formate supergut angenommen, auch außerhalb Leipzigs. Und seit wir endlich wieder on stage sind, ist der Saal immer richtig gut gefüllt.
Welche Ausgaben bleiben Ihnen besonders in Erinnerung?
Auf jeden Fall die allererste mit Saša Stanišić, das war einfach der Hammer. Es ist ja auch ein Wagnis, so was zu machen und noch gar nicht zu wissen, ob die Leute das lustig oder einfach nur blöd finden. Und da zu merken, wie das Publikum gleich voll drauf angesprungen ist und auch das Mitspielen und Büchergewinnen sofort funktioniert hat: Das war richtig cool! Ansonsten gab es natürlich Tausende absurde, witzige, berührende Momente. Für mich ist das Schönste, dass ich nach der Show vom Gastautor oder der Gastautorin eigentlich immer die Rückmeldung bekommen habe, dass sie sich noch nie so wohl gefühlt haben, so viel Spaß hatten und so positiv überrascht waren.
Nun steht die letzte Ausgabe an – mit Ihnen selbst als Gast. Was erwartet uns in Ihrem neuen Buch »Iron Woman«?
Ich habe schon während der Tour nach Budapest entschieden, diese Radtour zu machen. Weil ich gemerkt habe, dass Wandern zwar nicht so meins ist, aber draußen sein, nah an der Natur und nah an den Menschen, das gefällt mir. Also wollte ich es mal mit dem Fahrrad probieren! Ich bin den ehemaligen Eisernen Vorhang abgefahren, also die Demarkationslinie zwischen dem ehemaligen Ostblock und dem Westen, die sich vom Schwarzen Meer bis zur Barentsee zieht. Das sind insgesamt etwa 10.000 Kilometer durch 20 Länder. Ich bin keine krasse Fahrradfahrerin und konnte anfangs nicht mal einen Platten reparieren – meine Expertise hört beim Abschrauben der Ventilkappe auf. Aber ich hatte einfach Bock, mir das anzuschauen. Du fährst durch die Türkei, durchs einsame Finnland, da ist ein krasser Gegensatz zwischen quirligem Balkan und dem einsamen Norden, und trotzdem besteht da eine Verbindung. Dass dann kurz vor meinem Start Russland die Ukraine überfallen hat, war natürlich erst mal ein Rückschlag und da haben mich auch alle bekniet, nicht loszufahren. Ich dachte dann, dass ich ja erst mal losfahren und sehen kann, wie weit ich komme. Ich bin dann im Endeffekt doch die beiden russischen Passagen auf der Strecke gefahren und habe es vorher niemandem gesagt. Also, ich habe es erst erzählt, nachdem ich es gemacht hatte. Ich hatte mich ja auch voll über die Warnung des Auswärtigen Amtes hinweggesetzt, aber irgendwie habe ich gedacht: Ey, nun bist du einmal hier, jetzt guckst du dir das erst mal an und wie da die Stimmung ist.
Und wie war die Stimmung?
Ganz unterschiedlich. Man fährt erst durch Kaliningrad, durch die Exklave. Und dann durch die Bucht rund um Sankt Petersburg. Und da hat man schon gemerkt, dass da zwei unterschiedliche Winde wehen. Ich hab mich das vor allem getraut, weil mir vorher Leute Privatkontakte vermittelt hatten. Und das waren zufällig immer queere Leute, die also eh illegal in ihrem Land sind, sozusagen. In Kaliningrad haben sie gesagt, dass die Möglichkeit, vor dem Krieg relativ leicht durch Europa zu reisen, eine neue Generation erschaffen hat an Leuten, die gesehen haben, wie man anders und freier leben kann, und die nicht mehr so leben wollen, wie »Big Russia« es vorgibt. Dort haben die Leute also relativ frei gesprochen, auch über den Krieg, während in Sankt Petersburg eine absolut ängstliche Stimmung herrschte. Die Leute haben nicht mal in den eigenen vier Wänden frei gesprochen, sondern sich immer umgeguckt. Das war schon beängstigend. Man merkt, dass die Leute in Angst leben, dass es ihnen nicht gut geht, zumindest den Menschen, die ich getroffen habe – und wie schrecklich es ist, in einem Staat zu leben, der dich unterdrückt für das, was du bist oder denkst.
Was war das Beeindruckendste an der Fahrt?
Ich war schockiert, wie sichtbar die Narbe ist, die der Eiserne Vorhang in Europa geschlagen hat. Ich habe viel Leerstand, Ruinen, Armut gesehen. Aber die Landschaften sind natürlich beeindruckend, man fährt über das Balkangebirge, an der Ostsee entlang, durch endlose finnische Wälder … Es ist sehr abwechslungsreich, mal kleine Dörfer, mal Großstädte. Die Menschen waren größtenteils super gastfreundlich und hilfsbereit. Leute, mit denen du kein Wort gemeinsamer Sprache hast, laden dich zu sich nach Hause ein. Und jede Person, zu der ich Kontakt hatte, hat selbst eine Fluchtgeschichte in der Familie. An der EU-Außengrenze habe ich mehrmals Menschen gesehen, die nur noch Fetzen am Körper trugen und sich im Wald versteckt haben, weil sie versuchen wollten, in die EU zu kommen. Es ist erschütternd, zu sehen, dass die Abschottung und das Sterben kein Ende genommen haben, auch wenn der Eiserne Vorhang nicht mehr existiert.
Haben Sie angesichts dessen mit dem Gedanken gespielt, die Reise abzubrechen?
Es war so merkwürdig, dass ich, nur weil ich einen deutschen Pass habe, einfach über die Grenzen fahren konnte, während andere Menschen dort verprügelt, missachtet und ermordet werden. Und eine Grenze weiter ist Krieg. Das ist so absurd, dass ich dann trotzdem so eine Radtour machen kann, also das ist ja vor allem eine Anhäufung von Privilegien. Das hat mich anfangs schon in ein moralisches Dilemma gebracht.
Sie haben mal gesagt, dass Sie sich vor »Klub Drushba« eigentlich mehr als Romanschriftstellerin gesehen haben. Mit welchem Konzept ist es Ihnen dann doch gelungen, die beiden Bücher zu schreiben?
Ich habe mich in der Outdoor- und Wanderliteratur nicht so gesehen und mich deshalb erst mal dagegen gewehrt, »Klub Drushba« zu schreiben. Mir ist es wichtig, mithilfe eines persönlichen Bezugs eine zweite Ebene zu schaffen. Das sind im neuen Buch zum Beispiel die Kriegserlebnisse meiner Großeltern, da habe ich noch mal intensiv recherchiert und etwa die Unterlagen über die Wehrmachtszeit meines deutschen Großvaters angefordert. Es ist also keine bloße Reisegeschichte, sondern ich verknüpfe sie mit meiner Familienhistorie.
In den Pressestimmen zu »Klub Drushba« taucht vor allem ein Aspekt immer wieder auf: dass Ihr Buch Mut macht und einem die Angst vor dem ersten Schritt nimmt. Glauben Sie, dass wir Menschen heute zu viel zaudern und zu wenig ins Tun kommen?
Ja, die meisten denken wahrscheinlich: Um so eine große Tour zu machen, muss man komplett trainiert sein, großes Know-how und die perfekte Ausrüstung haben – das stimmt aber nicht. Eigentlich muss man es einfach nur machen. Es ist auch gar nicht wichtig, wie lange man braucht und ob man die Berge hoch schiebt oder fährt, es geht vor allem darum, weiterzukommen. Und ich glaube, das macht man nicht nur mit dem Körper, sondern vor allem mit dem Kopf. Wenn man richtig Bock hat, sich das alles anzuschauen, schafft man es auch durch die strapaziösen Abschnitte, die es immer wieder gibt.
Ist es Ihnen ein Anliegen, besonders Frauen zum Fernwandern zu motivieren?
Ich kann mir vorstellen, dass sich besonders Frauen durch mein Buch ermutigt fühlen. Die abfälligen Kommentare kommen tatsächlich eher von Männern. Und die am häufigsten gestellte Frage ist: Hast du denn keine Angst, so alleine als Frau? Und das impliziert natürlich eigentlich: Hast du keine Angst vor Männern? Die Frage ist an sich berechtigt, denn ich habe ja Angst vor Spinnen, Hunden, Bären … Aber natürlich ist die größte Gefahr für eine Frau immer noch ein Mann. Aber ich finde, es ist nicht meine Aufgabe, mir über die Lösung dieses Problems Gedanken zu machen, weil da die Männer an ihrem Verhalten arbeiten müssen, damit Frauen genauso angstbefreit reisen können.
> »Die letzte schlecht gemalte Deutschlandfahne« mit Rebecca Maria Salentin als Gast von Svenja Gräfen und Rainer Holl: 8.11., 20 Uhr, Neues Schauspiel Leipzig
> Rebecca Maria Salentin: Iron Woman. Berlin/Dresden: Voland & Quist 2023. 392 S., 22 € – ab 13.11.