Gil Ofarim sieht sich kurz um, als er den Sitzungssaal 115 des Landgerichts Leipzig betritt, er verschafft sich einen Überblick über die vollbesetzten Zuschauerreihen. An seinem Hals hängt eine Kette mit David-Stern. Eine solche Kette sorgte vor nunmehr über zwei Jahren für Aufregung. Ofarim hatte einen Mitarbeiter des Leipziger Westin-Hotels im Oktober 2021 beschuldigt, ihn antisemitisch diskriminiert zu haben. In Zuge einer Auseinandersetzung habe ihn der Hotel-Manager Marcus W. dazu aufgefordert, seine David-Stern-Kette abzunehmen, um einchecken zu können. Ofarim erstattete Anzeige gegen W., nachdem dieser den Musiker bereits einige Tage zuvor wegen Verleumdung angezeigt hatte.
Nach ihren Ermittlungen ist die Leipziger Staatsanwaltschaft davon überzeugt, dass sich der Vorfall nicht so zugetragen habe, wie ihn Ofarim in einem Millionenfach geklickten Instagram-Video dargestellt hat. Die Ermittlungen gegen den Mitarbeiter des Westin wurden eingestellt. Am Landgericht ist Ofarim nun wegen falscher Verdächtigung und Verleumdung angeklagt, außerdem soll er zwei falsche eidesstaatliche Versicherungen abgegeben haben, als er gegen Details der Berichterstattung der Leipziger Volkszeitung eine Unterlassung erwirken wollte.
Ofarims Verteidiger bezichtigt Medien der Vorverurteilung
Die mehreren Dutzend Kameras, die Ofarim am Dienstag zur Anklagebank verfolgen, das über Minuten andauernde Blitzlichtgewitter, das über ihn hinein bricht, die mehr als vierzig Journalistinnen und Journalisten im Saal – sie sind Ausdruck der riesigen Aufmerksamkeit, die dieser Prozess auf sich zieht. Der Musiker, der sich selbst als säkularer Jude bezeichnet, wirkt angesichts dieser Aufregung am Dienstag ruhig. Er legt seine Hand ans Kinn, als Staatsanwalt Andreas Ricken seine Anklageschrift vorliest, macht sich Notizen. Für Ricken ist klar: Die David-Stern-Kette sei an besagtem Abend im Hotel nicht sichtbar, sondern von einem Jeanshemd verdeckt gewesen. »Wie der Angeklagte wusste, entsprachen die erhobenen Vorwürfe nicht der Wahrheit«, sagte Ricken.
Alexander Stevens, einer von Ofarims drei Verteidigern, kritisiert in einem langen Eingangsstatement die Berichterstattung rund um den Fall scharf: Aufgrund der medialen Aufmerksamkeit habe es »die Wahrheit inzwischen sehr, sehr schwer«. Es stehe Aussage gegen Aussage, »daran ändern weder Videoaufnahmen noch die Vorverurteilung in den Medien etwas«. Das Westin hatte eigene Untersuchungen bei einer Anwaltskanzlei in Auftrag gegeben, die zum gleichen Ergebnis kam wie die Staatsanwaltschaft. Dabei habe es sich nicht um faire Ermittlungen gehandelt, sondern um einen PR-Stunt, die Medien seien mit den Ergebnissen gezielt gefüttert worden.
Stevens sagt, dass es nicht entscheidend sei, ob Ofarim die Kette nun getragen habe oder nicht. Die Mitarbeiter des Hotels hätten gewusst, mit wem sie es zu tun hatten. Die mutmaßliche antisemitische Äußerung habe ebenso Ergebnis einer Mischung aus missglücktem Humor in einer Stresssituation, »Sarkasmus-Patzer« und der Interaktion mit einem unbequemen Gast sein können: »Es geht nicht um den Stern, sondern um die Diskriminierungserfahrung.« Stevens zog einen Vergleich mit Fällen sexueller Belästigung im Zuge von MeToo, da Betroffene es bei Diskriminierungsfällen stets schwer hätten, die nötigen Beweise zu liefern.
Hotelmanager Marcus W. sagt als Nebenkläger aus
Ofarim äußerte sich am ersten Prozesstag nicht selbst zu den Vorwürfen. Dafür begann Marcus W., der im Verfahren als Nebenkläger auftritt, seine Aussage. Seine Schilderungen entsprechen denen der Staatsanwaltschaft. Ofarim habe sich bei W. darüber beschwert, dass andere Hotelgäste ihm beim Check-In, der sich aufgrund eines Computer-Systemausfalls an dem Abend verzögerte, vorgezogen wurden. Dabei habe es sich um zwei Stammgäste des Hotels gehandelt, sagt W. Da deren Daten bereits hinterlegt gewesen seien, habe er auf Wunsch der beiden Gäste ihnen ihre Schlüsselkarten ausgehändigt.
Wild gestikulierend habe ihn Ofarim einige Minuten später darauf angesprochen und gefragt, was für ein »scheiß-Laden« das Westin sei und gedroht, gleich auf sein Zimmer zu gehen, um der Welt zu erklären, was »das für ein scheiß Hotel ist«. W. habe das Hotel dadurch bedroht gesehen, sagt der 35-Jährige. Um den Hotelfrieden zu schützen, habe er Ofarim den Meldezettel weggenommen, ihm aber angeboten, nach einer Entschuldigung doch einchecken zu können. Ein weiteres Gesprächsangebot habe Ofarim abgelehnt und das Hotel verlassen. Erst durch einen Anruf einer MDR-Mitarbeiterin danach habe W. erfahren, um wen es sich bei Ofarim handelte.
W. berichtet von den folgenden Tagen, die »schlimm« und »dramatisch« gewesen seien. Per Mail habe er eine Morddrohung erhalten. Am Abend des nachfolgenden Tages habe W. ein Angebot des Hotel-Direktors angenommen, mit seiner Partnerin vorübergehend in einer anderen Wohnung unterzukommen. W. sei noch heute in psychologischer Behandlung.
Der Prozess, für den zehn Verhandlungstage bis zum 7. Dezember angesetzt sind, findet am Landgericht aufgrund des im Zuge der Krieges in Nahost öffentlich verstärkt aufgetretenen Antisemitismus, unter strengen Sicherheitskontrollen statt. Als Zweifel an Ofarims Darstellungen öffentlich wurden, sah er sich antisemitischen Anfeindungen in den Sozialen Medien ausgesetzt, ebenso der Zentralrat der Juden.
Hinweis vom 9.11.: In einer früheren Version des Artikels war nicht eindeutig formuliert, in welcher Reihenfolge Ofarim und W. gegeneinander Anzeige erstatteten. Das wurde inzwischen redaktionell korrigiert.