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Kultur

Wer hat denn Geburtstag?

Am 12. November 2023 wäre Loriot 100 Jahre alt geworden

  Wer hat denn Geburtstag? | Am 12. November 2023 wäre Loriot 100 Jahre alt geworden  Foto: Wikimedia

Meine sehr verehrten Damen und Herren, hochgeschätzte FLINTA*- und LGBTQIA+-Gemeinde, 

wenn ein bunter Vogel zwar sein zehntes Lebensjahrzehnt nicht mehr erreichen konnte, seine Bedeutung aber dennoch weit über die Grenzen von Wilmersdorf und Ammerland hinausweist, darf man damit rechnen, dass die Öffentlichkeit seiner Leistungen gedenkt und ihn in angemessener Weise zu feiern wünscht. 

Mir wurde heute die besondere Ehre zuteil, einen in Mitteleuropa einzigartigen Singvogel mit flötendem Didlioh-Ruf und HollariDuDödelDu (zweites Futur bei Sonnenaufgang) zu ehren: den Pirol. Mit seinem zitronengelben Gefieder gilt unser Freund als Charaktervogel lichter Auenwälder und gewässernaher Gehölze. Er ernährt sich hauptsächlich von Insekten, Kosakenzipfeln und in ganz seltenen Fällen von Abelé-Champagner (3. Juni 1989). Einer dieser Artgenossen lebte lange Zeit am Starnberger See und war weithin unter der französischen Bezeichnung »Loriot« bekannt. Am 12. November 2023 wäre der Abkömmling eines alten preußischen Adelsgeschlechts, das es sich nicht nehmen ließ, den Pirol auch im Familienwappen zu verewigen, 100 Jahre alt geworden. 

Zu diesem Jubiläum würde Loriot vielleicht sagen: »In Potsdam findet man hier und da noch eine Stelle, die so aussieht wie früher … an mir nicht.« Niemand hätte anlässlich seines runden Geburtstages eine bessere Festrede schwingen können als Bernhard-Viktor Christoph-Carl von Bülow selbst. Ich kann ihn förmlich hören, wie er sich in seinem wunderbar eloquenten Sprachstil des 19. Jahrhunderts, den er vermutlich als Kind bei seiner Groß- und Urgroßmutter lebend verinnerlichte, darüber beschwert, dass keiner auf die Idee gekommen ist, ihn persönlich zu dem feierlichen Akt einzuladen – ähnlich wie 1982, als er in seiner Rede zum hundertjährigen Jubiläum des Berliner Philharmonischen Orchesters bedauerte, dass sich keine Orchestermitglieder des Gründungsjahrgangs 1882 unter den Abendgästen befanden: »Ein Versehen der Veranstalter? Oder die zeitgemäße Gleichgültigkeit gegenüber älteren Menschen, die nicht mehr so sauber blasen wie ihre Urenkel?« 

Bläst Loriot denn noch so sauber wie seine Urenkel? Mit anderen Worten gefragt: Hat ihn sein Humor überdauert und ist er heute noch zeitgemäß? Ich weiß nicht, ob es darauf überhaupt einer Antwort bedarf. 1979 hat Loriot jedenfalls einmal diesen schönen Satz ausgesprochen: »Die Satire richtet sich grundsätzlich gegen die Macht.« Für ihn war sie ein Mittel, aus Angst geborene bürgerliche Missverständnisse zu zersetzen. In Loriots Anfangszeiten als Karikaturist für diverse Zeitungen wurde er in Leserbriefen als Blödsinn verbreitender, Brechreiz verursachender Idiot bezeichnet und man schlug vor, ihn mithilfe eines Fläschchens »Schwiegermuttergift« E 605 zu beseitigen. Das waren die Hasskommentare der fünfziger und sechziger Jahre. 

Zum Glück entkam er diesen Attacken. Sein Humor war und ist entwaffnend. Ich schließe mich der Aussage Stermanns und Grissemanns an, die in Österreich kurz nach Loriots Ableben 2011 ein Programm seiner »Dramatischen Werke« spielten und es jetzt anlässlich des runden Geburtstages wiederholen: »Man kann nicht widerstehen, Loriot unaufhörlich zu zitieren.« Wenn etwas mit dem Ton nicht stimmt, können seine Witze diese vertrackten Alltagskonflikte niederschlagen: ein hartes Frühstücksei, zankende Ehepaare im Zug, Hunde, die die Aussage verweigern, Selbstverwirklichung durch Jodeldiplom, langatmige Dichterlesungen. »Krawehl, Krawehl!« Es ließe sich noch so vieles über Loriot erzählen – etwa, dass er stets Partei für Minderheiten ergriff (Möpse, Vampire in Rheinland-Pfalz, maulwerfende Maulwürfe …) –, doch stattdessen verbeuge ich mich vor dem großartigen Karikaturisten und Komiker und seiner fantasievollen, liebenswürdig selbstironischen Art, mit der er sich und seine Umwelt auf die Schippe genommen hat und es immer noch tut. 


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