60 Jahre Élysée-Vertrag, 95 Jahre Agnès Varda und frische Filme aus Frankreich präsentieren Passage und Schaubühne bei den 28. Französischen Filmtagen. Neben einer Werkschau unseres Lieblings-Weirdos Quentin »Mr. Oizo« Dupieux und der Schauspielerin Adèle Exarchopoulos empfehlen wir besonders »Hör auf zu lügen«, eine wundervoll traurige Liebesgeschichte mit »Call Me By Your Name«-Vibes.
22.–29.11., Französische Filmtage, Passage-Kinos, Schaubühne Lindenfels
Film der Woche: Fast unsichtbar liegt Cáit im Gras. Ihre Geschwister rufen nach ihr, aber sie würde am liebsten verschwinden. Ihre Eltern nehmen sie ohnehin nicht wahr. Die Mutter ist wieder hochschwanger, der Vater geht Wetten und versäuft das Geld der Familie im Pub. Als es irgendwann nicht mehr reicht, um alle zu ernähren, wird Cáit über den Sommer zu Verwandten geschickt. Dort lernt sie eine vollkommen andere Welt kennen, erfährt zum ersten Mal Liebe durch die behutsame Eibhlín und ihren schweigsamen Mann Seán. Zurückhaltend beobachtet die Kamera von Kate McCullough (»Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry«) das stille Mädchen, fängt immer wieder unscheinbare Details ein, ihren gesenkten Blick, die Finger, die mit Fäden am Kleid und Löchern in den Socken spielen. Wenn sich Cáits Welt öffnet, ist auch der Film befreit und die Kamera fliegt durch die sonnendurchflutete Allee. Hauptdarstellerin Catherine Clinch, die hier zum ersten Mal vor einer Kamera steht, besitzt eine bemerkenswerte Unschuld und beobachtet die neue Welt um sie herum mit großen Augen. Zu verdanken ist dieses kleine Kinowunder Colm Bairéad, der Claire Keegans Kurzgeschichte »Foster« las und wusste, dass er sie verfilmen musste – in seiner Heimat Irland und in seiner Muttersprache Gälisch. Das Ergebnis ist herzzerreißend schön und tief traurig. »The Quiet Girl«, der seine Premiere im Generationen-Programm der Berlinale feierte, war als erster irischsprachiger Film für den Oscar nominiert.
»The Quiet Girl«: ab 16.11., Passage-Kinos, Kinobar Prager Frühling
Quer durch die sozialen Medien gibt es täglich Diskussionen über den Begriff »Bodycounts« und über tatsächliche Bodycounts. Darüber, mit wie vielen Personen man bereits Sex hatte und ob diese Zahl eine Aussage über partnerschaftliche Qualitäten zulässt. Es gibt unausgereifte und misogyne Analogien zu Schlössern und Schlüsseln und im Fokus der Debatte steht vor allem weibliche Sexualität. Dementsprechend wäre es vermessen zu sagen, dass Milena Aboyans Langspielfilmdebüt »Elaha« sich ausschließlich mit den Hürden weiblicher Selbstbestimmung innerhalb einer bestimmten Religion, eines bestimmten Kulturkreises auseinandersetzt. Elaha ist 22 und liebt ihre Familie, ihre Kultur und deren Traditionen. Allerdings wird sie bald heiraten und man erwartet, dass sie dabei noch jungfräulich ist. Ist sie nicht. Sie besucht also einen Chirurgen, der Jungfernhäutchen rekonstruiert, aber der Eingriff ist zu teuer. Kunstblutkapseln sind die günstigere Alternative, aber der Testlauf enttäuscht. Elahas Suche nach einem geeigneten Täuschungsmanöver ist nur ein Erzählstrang in einem eindrucksvollen Film, der das Konzept Jungfräulichkeit geschickt ad absurdum führt. Das dynamische Spiel der Hauptdarstellerin Bayan Layla, lebhafte Bilder und eine selbstermächtigt konzipierte Protagonistin positionieren »Elaha« als eine Verhandlung körperlicher Autonomie, die ihresgleichen sucht. LAURA GERLACH
»Elaha«: 23./24.11., Cineding
Das Leben der jüdischen Familie Mortare in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts in Bologna. Die Kinder spielen Verstecken und vor dem Einschlafen beten sie auf Hebräisch. Dabei halten sie sich eine Hand vors Gesicht, verdecken symbolisch die Augen vor Gott. Und schon schlägt die Geschichte in das friedliche Leben ein. Soldaten dringen in das Haus ein und nehmen den kleinen Edgardo mit. Der wurde ohne das Wissen seiner Eltern von einer Hausangestellten getauft. Davon hat die Kirche Wind bekommen und nun soll das Kind in einem katholischen Priesterinternat erzogen werden. Die religiöse Welt dort ist das vollständige Gegenteil der organischen, jüdischen Spiritualität im familiären Kreis. Regisseur Marco Bellocchio (»Il Traditore«) vollführt einen Abgesang auf eine Ästhetik, die so immer weniger existiert: Messgesänge, die Pracht der Kirchen, all die Bilder von Heiligen und von Jesus am Kreuz. Das Judentum selbst lehnt Bilder dagegen ab, weil Gott nicht erfassbar ist. Die katholische Tradition produziert eine regelrechte Bilderflut, die in ihrem Überfluss im Endeffekt dasselbe zeigen will. Für diese Zugänge hat sich Marco Bellocchio wohl interessiert. Denn die Psychologie der Figuren geht dabei ein wenig unter. Offen bleibt, warum Edgardo sich immer mehr dem Katholizismus zuwendet. Vielleicht, weil das wuchtigere Bilder hergibt? Inhaltlich überzeugt »Die Bologna-Entführung« nicht, ist dafür aber ästhetisch mitunter wohltuend überfordernd. DANIEL EMMERLING
»Die Bologna-Entführung«: ab 16.11., Passage-Kinos
Weitere Filmtermine der Woche
Electric Cinema: Kinowanderung
Treffpunkt & Endpunkt werden bei Anm. bekannt gegeben: service@schaubuehne.com
Schaubühne Lindenfels, 17., 21.11. 18:30
Nur eine Frau
DDR 1958, R: Carl Balhaus, D: Karla Runkehl, Rudolf Grabow, Lore Frisch, Eva-Maria Hagen, 105 min
Ein biografischer Film über die Frauenrechtlerin Louise Otto-Peters, Autorin sozialkritischer Romane und Gründerin der ersten Frauenzeitschrift Deutschlands.
Cineding, 16.11. 19:00 (Filmgespräch)
Expedition: Depression
D 2022, Dok, R: Michaela Kirst, Axel Schmidt, 91 min
Fünf junge Erwachsene auf Roadtrip durch Deutschland – auf den Spuren der Depression. Auf der Suche nach Antworten zur Erkrankung.
Kinobar Prager Frühling, 16.11. 17:00 (mit dem Leipziger Bündnis gegen Depression)
Auf der Kippe
D 2023, Dok, R: Britt Beyer, 86 min
Porträt der Lausitz vor dem Kohleausstieg und wie sich die Gegend im Namen des Strukturwandels neu erfinden muss.
Cinémathèque, 17.11. 18:30 (mit Filmgespräch, OmU)
Die Höhenluft – Für Alle und Keinen
D 2023, R: Mika’Ela Fisher, D: Mika’Ela Fisher, 100 min
Ein Beobachter, der weder zu erfassen noch sichtbar ist, wird Zeuge eines infamen Schauspiels mitten im Gebirge. Seine Stimme kommentiert die Abläufe des Geschehens, nach Worten von Nietzsche.
Kinobar Prager Frühling, 17.11. 18:00 (Premiere mit der Regisseurin)
Geschichten hinter vergessenen Mauern III
D 2012, Dok, R: Enno Seifried, 87 min
In seiner »Lost Places«-Dokumentarfilmreihe sucht der Leipziger Enno Seifried verlassene Gebäude und erzählt ihre Geschichten.
KOMM-Haus, 16.11. 19:00 (Eintritt frei)
Cocktail für eine Leiche
USA 1948, R: Alfred Hitchcock, D: James Stewart, Farley Granger, Cedric Hardwicke, 77 min
Zwei ideologisch fehlgeleitete College-Studenten ermorden in ihrer Wohnung einen Kommilitonen und geben danach genau dort eine Party. Hitchcock wagte bei seinem ersten Farbfilm das danach nicht mehr wiederholte Experiment, ohne sichtbaren Schnitt auszukommen.
Cinémathèque in der Nato, 23.11. 19:30 (Lesung und Filmgespräch, OmU)
Concerned Citizen
ISR 2022, R: Idan Haguel, D: Ariel Wolf, Shlomi Bertonov, 82 min
Ben und sein Freund Raz haben eine Wohnung in einem armen, migrantisch geprägten Viertel von Tel Aviv gekauft. Sie wollen adoptieren, sind sich aber nicht einig, ob die Gegend geeignet ist, um hier ein Kind großzuziehen.
Schaubühne Lindenfels, 21.11. 19:30 (OmU)
Dalit Defenders
D 2021, Dok, R: Kaier Rest & Kenny Klein, 84 min
Dokumentarfilm über die Dalit-Frauen, die in vielen Teilen Indiens als unrein gelten. Die Aktivistin Manjula Pradeep kämpft für die Rechte dieser Frauen.
Cinémathèque, 24.11. 18:30
Das Phantom der Oper
USA 1925, R: Rupert Julian, D: Lon Chaney, Norman Kerry, Mary Philbin, 93 min
Die erste Verfilmung des Gruselromans von Gaston Leroux wird von Studierenden des Kirchenmusikalischen Instituts an der Orgel begleitet.
Hochschule für Musik und Theater, 23.11. 19:30
X-tro
UK 1982, R: Harry Bromley Davenport, D: Philip Sayer, Bernice Stegers, 83 min
Science-Fiction-Horror-Trash: Ein von Außerirdischen entführter Vater kehrt nach drei Jahren zu einem Monster mutiert zurück.
Luru-Kino in der Spinnerei, 19.11. 18:00 (DF, Luru-Archive 35 mm)
Die Außerirdischen
IT 1979, R: Giulio Paradisi, D: Mel Ferrer, Glenn Ford, Lance Henriksen, 109 min
In dem Sci-Fi-Horror aus Italien geraten eine Mutter und eine Tochter zwischen die Fronten außeridischer Mächte.
Luru-Kino in der Spinnerei, 19.11. 20:00 (DF, Luru-Archive 35 mm)
Die Tribute von Panem-Saga
USA 2012-2023, R: Gary Ross, Francis Lawrence, D: Jennifer Lawrence, Josh Hutcherson, Donald Sutherland, 700 min
Die Adaption der dystopischen Jugendromanreihe von Suzanne Collins gehört zu den erfolgreichsten Filmreihen der letzten Jahrzehnte. In diesem Special werden alle fünf Filme am Stück gezeigt.
Regina-Palast, 18.11. 14:00 (Special mit allen fünf Filmen der Reihe)
Harry-Potter-Marathon
GB/USA 2001-2005, R: Chris Columbus, Alfonso Cuarón, Mike Newell, D: Daniel Radcliffe, Rupert Grint, Emma Watson, 610 min
Die ersten vier der insgesamt acht Harry-Potter-Filme am Stück.
Cineplex, 18.11. 11:00 (gezeigt werden die Teile 1 bis 4 am Stück)
Land am Wasser
D 2016, Dok, R: Tom Lenke, 85 min
Dreizehn Jahre lang begleitete Regisseur Tom Lemke für diese Dokumentation Männer, die in einem fast komplett verlassenen Dorf in Sachsen-Anhalt ihrem Alltag nachgehen.
Schaubühne Lindenfels, 21.11. 17:00 (Eintritt frei, im Anschluss Filmgespräch mit dem Regisseur)
Mutt
USA 2023, R: Vuk Lungulov-Klotz, D: Lio Mehiel, Cole Doman, MiMi Ryder, 82 min
Nach der Transition muss Feña feststellen, dass es nicht so einfach ist, die Vergangenheit hinter sich zu lassen.
Kinobar Prager Frühling, 20.11. 19:00 (OmU)
Paprika
J 2006, R: Satoshi Kon, 90 min
Bildgewaltiger Anime-Thriller vom großartigen Satoshi Kon um eine revolutionäre Maschine, die es Wissenschaftlern ermöglicht, in die Träume eines Menschen einzutauchen und sie aufzuzeichnen.
Ost-Passage-Theater, 22.11. 20:00 (OmU)
Horror-Doppel mit Donis und zwei aktuellen Schockern:
Talk to Me
GB 2023, R: Danny Philippou, Michael Philippou, D: Sophie Wilde, Joe Bird, Alexandra Jensen, 94 min
Eine Gruppe Jugendlicher beschwört die Geister Verstorbener. Was zunächst als viraler Thrill beginnt, wird bald zum Albtraum.
Luru-Kino in der Spinnerei, 22.11. 20:00 (OmU)
Pearl
CND/USA 2022, R: Ti West, D: Mia Goth, David Corenswet, Tandi Wright, 103 min
Nach der erfolgreichen Zusammenarbeit von Mia Goth und Regisseur Ti West entwickelten sie gemeinsam eine Origin-Story zu ihrer Figur in »X«.
Luru-Kino in der Spinnerei, 22.11. 22:00 (OmU)
Queer-feministische Porno-Kurzfilme
Luna und Esti von der Plattform »Porn Better« präsentiereneinen queerfeministischen Pornoabend mit einer kurzen Einordnung der gezeigten Filme.
Cinémathèque in der Nato, 21.11. 19:30 (Einführung, OmU, Porn Better)
Sharknado
USA 2013, R: Anthony C. Ferrante, D: Ian Ziering, Tara Reid, John Heard, 82 min
Der Hai-Horror-Trash wird 10 Jahre alt: Ein Barbetreiber kämpft sich durchs von Wirbelstürmen mit Haien verwüstete Los Angeles, um seine Tochter zu retten.
Cinestar, 18.11. 22:45 (Jubiläumsvorführung mit einer verlängerten und digital verbesserten Fassung)
Sonne und Beton
D 2023, R: David Wnendt, D: Levy Rico Arcos, Vincent Wiemer, Rafael Luis Klein-Hessling, 119 min
Aufwachsen in Neukölln zwischen Plattenbau und Partys. Verfilmung des autobiografisch inspirierten gleichnamigen Bestsellers von Felix Lobrecht.
Pöge-Haus, 16.11. 19:30
Soultribe
D 2022, R: Stefan Rainer, D: Stefan Rainer, Jenny Rainer, Patrick Seom Kammerer, 111 min
Stefan & Jenny, Patrick & Johanna sowie Dunja & Maik sind Visionäre, Künstler, Eltern und Unternehmer und auf Selbstfindungstrip.
Passage-Kinos, 19.11. 18:30 (Premiere mit Gästen)
Surf-Film-Nacht
»Sweet Adventure« ist eine Ode an die Abenteuerlust des preisgekrönten Filmemachers Peter Hamblin, und in »Tasgaoudrar« erzählt der Filmemacher Felix Gänsicke die Geschichte eines jungen Berbers, der im Ozean neuen Lebensmut findet.
Kinobar Prager Frühling, 19.11. 20:30 (OmU)22.11. 21:00 (OmU)
The 5 Days
Spanien, 2023 82′ Regie: Josep Daniel
Special-Screening des Stadtverbands der Hörgeschädigten Leipzig
Cineplex, 19.11. 15:00 (Premiere)
Untergang des Hauses Usher
F 1928, R: Jean Epstein, D: Jean Debucourt, Abel Gance, 63 min
Stummfilm nach einer Kurzgeschichte des amerikanischen Autors Edgar Allan Poe mit Live-Vertonung vom Leipziger Projekt Newsoundkino.
Cinémathèque in der Nato, 22.11. 19:30 (Stummfilmvertonung)