Lisa* ist zehn Jahre alt und lebt in einer Pflegefamilie seit ihrem zweiten Lebensmonat. Wie andere Pflegekinder wächst sie nicht bei ihren leiblichen Eltern auf, weil die ihnen kein sicheres Zuhause bieten. Gründe dafür sind häufig Vernachlässigung, Gewalt- und Missbrauchserfahrungen in der Familie sowie schwierige sozio-ökonomische Verhältnisse, berichtet Sozialarbeiter Ralph Kallenbach vom Pflegekinderdienst der Stadt Leipzig. Er vermittelt Kinder in Pflegefamilien. »Bei einem Großteil der Kinder, die in Leipzig in eine Pflegefamilie vermittelt werden sollen, besteht eine schwere psychische Erkrankung und/oder massive Suchtproblematik bei den leiblichen Eltern. Vor allem die Abhängigkeiten von Alkohol und chemischen Drogen wie Crystal Meth sind in den letzten Jahren stark gestiegen«, ergänzt Kallenbach. Aktuell begleitet der Pflegekinderdienst der Stadt Leipzig 434 Kinder und junge Volljährige in der Vollzeitpflege. Weitere 84 leben in Erziehungsstellen, also Pflegefamilien mit mindestens einem Elternteil mit einer pädagogischen Ausbildung. Und 35 Kleinstkinder sind in Bereitschaftspflegestellen aufgenommen. Das sind Pflegefamilien, die Kinder zwar befristet, aber in Notsituationen sofort aufnehmen können, bis eine andere Perspektive gefunden wird.
Kerstin Schmidt* und ihr Ehemann sind seit 1996 Pflegeeltern. In dieser Zeit haben sie viele Kinder befristet begleitet. Vor einigen Jahren entschieden sie sich dann für eine Dauerpflege. Seitdem lebt Lisa bei ihnen. Um als Pflegeeltern angenommen zu werden, muss man viele Schritte durchlaufen: zunächst den Informationsabend des Pflegekinderdienstes, dann einen etwa 20-seitigen Fragebogen. »Bei manchen Fragen dachte ich: Na ja, die wollen aber viel wissen!«, erinnert sich Schmidt mit einem Lächeln. Unter anderem geht es da um Vorstellungen des Zusammenlebens, Erziehungsvorstellungen, medizinische Stellungnahmen und eine Lebensbeschreibung. »Im Eignungsverfahren setzen sich Interessenten oft mit ihrem bisherigen und zukünftigen Lebensverlauf auseinander«, sagt Kallenbach. Hinzu kommen das erweiterte Führungszeugnis, Schufa-Auskunft und gegebenenfalls Heirats- oder Scheidungsurkunde. Danach folgen Hausbesuche und Schulungen zum Thema Herkunftseltern, Rechte der Pflegeeltern, Aufklärung zum Vermittlungsprozess und möglichen Traumata der Kinder. Der Prozess bis zur vereinten Familie ist lang. Bis zu neun Monate kann es dauern, sagt der Pflegekinderdienst.
240 Kinder in stationären Leipziger Einrichtungen warten auf Pflegeeltern
So eine verantwortungsvolle Aufgabe kommt nicht ohne Herausforderungen. Die Kinder bringen ihren »eigenen Rucksack« mit in die Familie, wie Kerstin Schmidt es nennt. Wenn Kinder nicht mehr bei ihren leiblichen Eltern leben können, suchen sie häufig die Schuld und den Fehler bei sich selbst. »Das ist ein Thema in der Biografiearbeit der Kinder, das sie immer wieder bewegt. Und die Aufbereitung davon, dass die Kinder nichts falsch gemacht haben und sie nicht in der Verantwortung dafür sind, dass sie in einer anderen Familie aufwachsen, das ist ein sehr langwieriger Prozess«, sagt Ralph Kallenbach. Kontakt mit den leiblichen Eltern spielt dabei eine wichtige Rolle »Am Anfang – und das kann sich auch ein bisschen hinziehen – kann das schon ein bisschen beschwerlich sein, aber wir als Familie haben immer die Erfahrung gemacht, dass es sehr wichtig ist, dass die Kinder wissen, wo sie herkommen, weil sonst später diese Fragen auftauchen und dann vielleicht schwieriger bearbeitet werden können«, sagt Pflegemutter Kerstin Schmidt.
In Leipzig gibt es aktuell 240 Kinder in stationären Einrichtungen wie zum Beispiel Wohngruppen, sie wären laut Pflegekinderdienst aber am besten in einer Pflegefamilie aufgehoben. »Sie können durch die Erziehung, Unterstützung und Fürsorge von Pflegeeltern erfahren, wie eine Familie funktionieren kann. Sie erleben, wie es sich anfühlt, wenn Erwachsene Verantwortung für sie übernehmen, auf ihre Bedürfnisse eingehen und stark genug sind, um ihnen durch konsequente Erziehung Halt und Sicherheit zu geben«, erklärt Elke Kuch, die Sachgebietsleiterin des Pflegekinderdienstes.
Aber es gibt nicht genügend Familien, die Kinder zu sich nehmen. Vielen fehle es an Informationen, vermutet Sozialarbeiter Kallenbach. Es könne aber auch an den Ansprüchen an die Pflegefamilie liegen, phasenweise eine hohe familiäre Belastung auszuhalten. Messen lässt sich das aber nicht. Habe man mit dem Gedanken schon mal gespielt, Pflegeeltern werden zu wollen, lohne es sich, sich in einem unverbindlichen Erstinformationsabend des Pflegekinderdienstes näher damit auseinanderzusetzen – woher Pflegekinder kommen, wie man Pflegefamilie werden kann und wie sich das Leben in Pflegefamilien gestaltet.
* Name von der Redaktion geändert.
> Pflegekinderdienst/Adoption, Messehalle 12, Perlickstr. 6, 04103 Leipzig, Tel. 03 41/1 15, leipzig.de/familien, Di 9–12 u. 13–18, Do 9–12 u. 13–16 Uhr (nur mit Termin)