Die Menschen in der Tram sind noch still, jeder bleibt bei sich, hängt seinen Gedanken nach und starrt grimmig vor sich hin. Es ist ein gewöhnlicher Mittwochmorgen, beinahe. Ich sehe mich verstohlen um und überlege, welche meiner Mitreisenden ebenfalls auf dem Weg ins Museum sind. Vielleicht die Mutter mit dem Kinderwagen oder die zwei Seniorinnen, die an der Koehlerstraße eingestiegen sind? Sie unterhalten sich über ihre Gesundheit und die anstehenden Feiertage. Stellenweise knirscht die Tram so laut, dass ich sie kaum verstehen kann. Als sie aussteigen, bin ich enttäuscht. Werde ich so früh unter der Woche die Einzige in der Ausstellung sein? Das rostrote Grassi-Museum saust vorbei – noch schläft es. Heute ist mein Ziel jedoch ohnehin ein anderes.
Eingekesselt von kleinen Ständen erwartet mich das Alte Rathaus am Marktplatz. Ich schäme mich ein wenig, dass ich noch nie hier war. In der Mitte des Gebäudes führen Stufen zum Museum hinauf. Ich bin überrascht, als vor mir bereits zwei Frauen mittleren Alters und ein einsamer älterer Herr das Museum betreten. Es hat erst seit wenigen Minuten geöffnet und dennoch schiebt sich gleich hinter dem Herrn eine große Menschentraube die Treppen hinauf. Sie sind offenbar zu Besuch in Leipzig und haben eine Führung gebucht. Ich folge unauffällig.
Empfangen werden wir im Festsaal und Eingangsbereich von einem Museumsmitarbeiter, der uns begrüßt und zu den Schließfächern lotst. Der Festsaal wird seinem Namen gerecht: Weit streckt er sich länglich nach hinten, an den Wänden zahlreiche Porträts blasser Männer, die stolz ihre Ämter und Perücken präsentieren. An der Kasse unterhalten sich zwei ältere Herrschaften mit einer Angestellten. »Ab Januar ist die Ausstellung immer kostenfrei«, bestätigt sie den beiden Überraschten. »Wie, tatsächlich?«
»Sie brauchen kein Ticket, der Eintritt ist heute kostenfrei«, erklärt mir eine andere Museumsmitarbeiterin freundlich von der Seite. Keine Tickets, dafür eine bunte Mischung an Museumsgängern. »Ist hier am ersten Mittwoch im Monat immer so viel los?« Sie nickt. In der Tat bietet der Tag – auch abseits des kostenlosen Eintritts – vielen den Anreiz, mal wieder ins Museum zu gehen. Immer mehr Menschen werden am Eingang begrüßt. »Wir wollen nur mal einen Blick reinwerfen«, entschuldigt sich eine Frau. »Eintrittsfreier Mittwoch«, lässt sie der Mitarbeiter an der Tür wissen. Die Frau tritt freudig ein. – Wer sind diese Leute, die sich hier die Zeit für Kultur nehmen? Leute, die nichts zu tun haben? Museophile Kunstliebhaberinnen?
Besonderen Eindruck auf mich macht eine Gruppe aus drei Männern und einer Frau. Zunächst halte ich sie für Freunde oder Familie – aber sie siezen sich, also vermutlich Kollegen, auf jeden Fall Leipziger: Am Stadtmodell von 1822 haben sie keine Probleme, sich zu orientieren, erzählen sich Anekdoten zu historisch erhaltenen Orten. Sie scheinen sich generell ganz gut in Leipziger Ausstellungen auszukennen – die zur Titanic im Panometer (2017–19) hat ihnen jedenfalls nicht zugesagt.
Im ersten Ausstellungsraum läuft mir wieder die Museumsmitarbeiterin aus der Eingangshalle über den Weg: »Der nächste Schwung kommt schon!«, sie lächelt mich an. Ich verstehe es als Warnung und verziehe mich mit den vier Leipziger Urgesteinen in den nächsten Raum. Besonders gefällt mir dort die »Disputationsuhr«: Aus Eisen, Glas und dunklem Holz gefertigt, wirkt sie wie ein überdimensionaler Serviettenhalter, an dessen flachen Seiten jeweils fünf Sanduhren angebracht sind. Offenbar wurde sie eingesetzt, um die Redezeit in Gerichtsverfahren und Diskussionen zu bemessen. Immer mehr Leute kommen in die Ausstellungsräume; manche in stillem Interesse, andere erklären ihrer Begleitung in gebildetem Ton den Inhalt der Infotafel. Sicher wünscht sich die eine oder der andere eine Disputationsuhr.
Zurück bei den Schließfächern. »Warum passiert das wieder mir?« – das Schließfach einer Besucherin öffnet sich nicht. Ein Museumsmitarbeiter versucht zu helfen, doch es bleibt fest verschlossen. »Man könnte die Türe rausreißen«, sagt er ganz ruhig. Auch die Mitarbeiterin von der Kasse kommt herüber und der Pulk wächst weiter, als schließlich der Vorgesetzte auftaucht. Es wird herumprobiert, das Stichwort »Schlüsseldienst« fällt … und dann geht ein Schließfach auf. Zwar nicht das fest verschlossene, aber das daneben, zu dem der Schlüssel eigentlich gehört. Die Anspannung löst sich in allgemeine und verlegene Erheiterung auf. Ein guter Moment für mich, rüber ins Böttchergäßchen und ins Bildermuseum zu huschen. Der letzte erste Mittwoch im Monat ist ja nicht unendlich.