Die Zeiten sind unübersichtlich geworden. Womöglich nicht nur im Ressort Spiel, aber hier ganz besonders. Ein Beispiel: Auf Steam, der weltweit wichtigsten Plattform für PC-Spiele, sind innerhalb des letzten Jahres weit über 14.000 Titel erschienen. Aktuelle Zahlen fehlen, aber 2021 besuchten jeden Monat 132 Millionen Menschen die Plattform. Das kann niemand überblicken. Was spielen die alle?
Auf einen Irrweg führt die Frage nach den größten Hits. Es ist wie bei Literatur oder Film. Statistisch gesehen sind Menschen langweilig. Was die Leute lesen oder schauen, lässt sich auch nicht auf Bahnhofsbuchhandel und Multiplexkino reduzieren. Und was sie spielen, ist nicht nur »FIFA«, »Fortnite« und »Call of Duty«.
Jenseits der Statistik sind Menschen einzigartig und verschieden. Und der Spielemarkt ist dermaßen riesig, dass millionenschwere Trends kommen und gehen, von der breiten Öffentlichkeit unbemerkt.
Wirklich viele Menschen stecken etwa in Simulatoren, vom immergrünen »Landwirtschaft-Simulator« über allerlei Titel rund um den ÖPNV bis hin zu kleinteiligen Träumen einer ganz anderen Karriere. Bier brauen, Autos reparieren, Rasen mähen, Häuser renovieren und mit dem Hochdruckreiniger putzen – alles Themen von Indie-Hits der letzten Jahre.
Überraschend viele Menschen träumen auch davon, fernab der Zivilisation in der Wildnis aufzuwachen, wo sie dann ihr Floß im Wasser bewirtschaften, sich durch den Dschungel kämpfen oder Holzhütten errichten, bevor der Winter kommt.
Und ältere Herrschaften, die sich sehnsüchtig fragen, ob es nicht auch Grafikadventures oder rundenbasierte Aufbauspiele oder Wimmelbildspiele oder Egoshooter genau wie früher gibt, treffen inzwischen auf ganze Ladenregale. Die Antwort ist immer ja.
In diesen Zwischenetagen ist Platz für sehr spezifische Trends und ungewöhnliche Ideen. Gute Experimente wachsen etwa gerade aus dem »Backrooms«-Trend. Alles begann vor Jahren damit, dass Menschen sich online gegenseitig mit Bildern leerer, schier grenzenloser Bürolandschaften gruselten – die Räume hatten keinen Ort, keine Funktion und wurden nur als Hinterzimmer bezeichnet. Irgendwann googelte jemand das Wort »Liminalität«; seitdem gibt es Hunderte Videospiele, die von dem Grauen eines ziellosen Durchquerens endloser Schwellenräume handeln.
Das neueste Beispiel liefert die kleine, unwahrscheinliche Erfolgsgeschichte von »8番出口« oder »The Exit 8«. Hier geht es nicht um Büroflure, Malls oder Flughäfen, sondern um Fußgängertunnel einer japanischen U-Bahn-Station. Um zu gewinnen, müssen wir einfach bis Ausgang 8 laufen. Doch der unbarmherzig weiß geflieste Weg wiederholt sich nach wenigen Kurven. Wer nicht in einer endlosen Schleife immer weiterlaufen will, muss übernatürlichen Regeln folgen, die auf einer nüchternen Hinweistafel notiert sind.
»The Exit 8« fängt sehr genau das Gefühl ein, sich am Bahnhof einer fremden Stadt zu verirren, den Weg endlich zu finden und dann schleichend zu bemerken, dass man doch nur im Kreis gelaufen ist. Das Grauen wirkt echter, weil es im Prinzip bekannt ist. Es ist das Unbehagen beim Durchqueren von Orten, die nur zum Durchqueren und bloß nicht zum Stehenbleiben gebaut wurden, in einer reduzierten und zugespitzten Form. Es braucht keine Gegner; hier nicht wieder herauszukommen, ist Schrecken genug.
Das ziemlich genaue Gegenteil dieser Spielidee ist auch ein Trend: Die zunehmende Freude darüber, an einem Ort stehen zu bleiben, drückt sich im »Bulletheaven« oder der »Reverse Bullethell« aus. Bullethell-Spiele sind eigentlich Spielhallenklassiker, in denen das eigene Raumschiff einer irren Menge an Projektilen ausweichen muss. Der neue Trend besteht darin, dass die eigene Spielfigur immer absurdere Mengen an Projektilen auf die Gegner schießt. Die Monster müssten ausweichen. Weil sie es nicht tun, sondern stupide auf uns zulaufen, dabei schmelzen wie Butter auf dem Weg ins Lagerfeuer und uns Erfahrungspunkte hinterlassen, werden wir immer stärker.
Bulletheaven-Spiele nehmen den kürzestmöglichen Weg zur Ausschüttung von Endorphinen. Sie beweisen, dass auch simple Ideen genial sein können. Sie lösen fast beliebig große Zeiträume in einem seligen Flowzustand auf. Den Proto-Hit »Vampire Survivors« haben wir hier vor einem Jahr schon erwähnt. Inzwischen ist aus der Idee ein Genre geworden. In »Brotato« wird das Spiel noch simpler gestrickt und auf kleine Runden reduziert, in »20 Minutes till Dawn« dürfen wir auch ein bisschen selber schießen, in »Halls of Torment« wird auf den alten Klassiker »Diablo« angespielt und in »Death must die« auf den modernen Klassiker »Hades«. Und das ist nur die Spitze des Kugelhimmels.
Und was spielen die Leute jetzt? Das alles. Unter anderem.
> The Exit 8 Entwickler & Publisher: Kotake Create, Plattform: PC, Preis: 4 €
> Vampire Survivors Entwickler & Publisher: Poncle, Plattform: Handy, PC, Switch, Xbox, Preis: 5 €
> Brotato Entwickler & Publisher: Blobfish, Plattform: Handy, PC, Switch, Preis: 5 €
> 20 Minutes till Dawn Entwickler: flanne, Publisher: Erabit, Plattform: Handy, PC, Switch, Preis: 5 €
> Halls of Torment Entwickler & Publisher: Chasing Carrots, Plattform Preis: 5 €
> Death must die Entwickler & Publisher: Realm Archive, Plattform: PC, Preis: 7 €