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Pässe und Abgründe

Die Debatte zur Ausweitung des Kreises der Leipzig-Pass-Berechtigten wird vom Rassismus der AfD überlagert

  Pässe und Abgründe | Die Debatte zur Ausweitung des Kreises der Leipzig-Pass-Berechtigten wird vom Rassismus der AfD überlagert  Foto: Stefan Ibrahim

Der aktuelle Tagesordnungspunkt ist schon einige Minuten alt, als Oberbürgermeister Burkhard Jung (SPD) Britta Haßelmann zitiert: »Sie nennen sich Patrioten, sie sind Faschisten!« Die Grünen-Fraktionschefin in Bundestag meinte damit vor einigen Wochen die Abgeordneten der AfD, Jung auch. Eigentlich dreht sich die Debatte im Stadtrat gerade um den Leipzig-Pass. Mit dem können einkommensschwache Leipzigerinnen und Leipziger kostengünstig Kultur- und Sportangebote nutzen und erhalten Ermäßigungen im Nahverkehr.  Verwaltung und Fraktionen von Linke bis CDU wollen es den anspruchsberechtigten Menschen erleichtern, den Pass zu erhalten. »Alle, die Wohngeld bekommen, das ist einer der zentralen Punkte, sollen befähigt werden, den Leipzig-Pass auch zu bekommen«, sagt Sozialbürgermeisterin Martina Münch (SPD).

Die Einigkeit über die Notwendigkeit dieser Vorlage endet Rechtsaußen. AfD-Stadtrat Marius Beyer bezeichnet den Leipzig-Pass in seiner Rede als »Asylbewerberpass«. Das Integrations-Verständnis seiner Partei? Geflüchtete sollten eine Grundversorgung bekommen – »nicht mehr und nicht weniger«. Im Leipzig-Pass sieht Beyer hingegen einen Pull-Faktor für »massenhafte Armutsmigration«. »Faschist!«, ruft SPD-Stadträtin Heike Böhm während der Rede. Beyer dreht sich zu Jung, verlangt einen Ordnungsruf. »Ich sehe nicht den richtigen Grund, da einen Ordnungsruf zu erteilen«, entgegnet der.

Beyer hatte während der Pandemie in Engelsdorf verschwörungstheoretische Demonstrationen mitorganisiert, an denen mehrere hundert Menschen teilnahmen. »Unter ihnen befindet sich der AfD-Stadtrat Marius Beyer, der ein Schild mit der Aufschrift ›Russland-Sanktionen beenden‹ trägt«, vermerkte damals Chronik.LE, ein Projekt zur Dokumentation rechtsextremer Vorkommnisse in Sachsen. Einige Monate später mobilisierte der 24-Jährige zu einer Demo gegen eine Geflüchtetenunterkunft in Stötteritz, an der auch Neonazis teilnahmen. Bereits 2019 relativierte Beyer die systematische Ausgrenzung und Verfolgung von Jüdinnen und Juden während des Nationalsozialismus: »Früher hieß es ›Kauft nicht bei Juden!‹, heute heißt es ›Verkauft keine Produkte von AfD-Mitgliedern!‹«, schrieb er auf Facebook.

»Sie regen sich immer auf, dass die Menschen nicht integriert werden, wollen ihnen aber genau das nicht ermöglichen«, sagt SPD-Fraktionschef Christopher Zenker zum AfD-Redebeitrag, der inzwischen ans Mikro getreten ist. »Sie wollen einfach nur hetzten, darum geht es ihnen – nicht mehr und nicht weniger.«

»Das weisen wir grundsätzlich zurück, dass wir hier von Hetze sprechen«, sagt Siegbert Droese (AfD) ins Mikro, das dabei übersteuert. Der Fraktionschef fuhr im Wahlkampf 2016 Autos mit den Kennzeichen L-AH 1818 und L-GD 3345 – bekannte rechtsextreme Codes – und hatte auf Facebook auch schon einmal vor der Wolfsschanze posiert, die Hand auf der Brust. Einige Reihen hinter Droese sitzt sein Fraktionskollege Roland Ulbrich. Der ist selbst der sächsischen AfD zu rechts. Der praktizierende Anwalt soll in einem parteiinternen Schiedsspruch Bezug zu einem NS-Rassegesetz genommen haben. Die AfD will nun ein Parteiausschlussverfahren, aus der Landtagsfraktionen ist Ulbrich bereits ausgetreten, nachdem die sächsische AfD angekündigt hatte, ihn aus dieser ausschließen zu wollen. Eine kreuzer-Anfrage, welche Konsequenzen die Leipziger AfD daraus ziehen würde, ließ die Fraktion vor einigen Wochen unbeantwortet.

»Ich stehe dazu, dass ich das Wort Faschist nicht rüge«, wiederholt sich Jung. »Es ist höchstrichterlich entschieden worden, dass Björn Höcke Faschist genannt werden darf.« »Höcke, aber wir nicht!«, ruft Christian Kriegel (AfD), der das Urteil genau zu kennen scheint.

»Es ist höchst richterlich entschieden, dass Sie Teil einer Partei sind, die verfassungsrechtlich untersucht, beobachtet wird und in der Tat faschistische Grundauffassungen vertritt - und deshalb habe ich da keine Rücknahme zu sehen«, wiederholt sich Jung ein letztes Mal. Plötzlich schreit Karl-Heinz Obser (AfD) los: »Pack deinen Koffer, sage ich bloß! Gehe in den Orient und mache deine Politik dort. Du bist falsch hier!« »Herr Obser, Sie dürfen gerne versuchen, mich zu remigrieren«, antwortet Jung. Das werde er machen, sagt Obser.

Michael Weickert (CDU) möchte eigentlich zur Sache aufrufen, den Fraktionen – denen links der Mitte – hat er dann aber doch noch etwas »ins Stammbuch zu schreiben«: »Alles Krakeelen, alle Zwischenrufe, haben nicht dazu geführt, dass auch nur ein Wähler weniger AfD wählt.« Die inhaltliche Demontage des AfD-Beitrags übernimmt Sven Morlok (Freibeuter). »Jetzt wissen wir natürlich alle, dass Leipzig die tollste Stadt auf diesem Planten ist«, beginnt Morlok. Der Grund, dass Menschen aus ihrer Heimat fliehen? »Es ist der Leipzig-Pass, es ist nicht Vertreibung, es ist nicht Krieg, es ist nicht Verfolgung – wie abstrus ist denn diese Vorstellung?!«

Das Wichtigste zum Schluss: Die Gruppe der Menschen, die Anspruch auf den Leipzig-Pass haben, wird auf Antrag von SPD und Linken zusätzlich erweitert. Anspruch haben künftig auch Menschen, die Bafög oder Ausbildungsbeihilfe beziehen.


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