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Kultur

Wer ist der Star des Abends?

Sandra Hüller liest im Schauspiel aus Didier Eribons neuem Buch

  Wer ist der Star des Abends? | Sandra Hüller liest im Schauspiel aus Didier Eribons neuem Buch  Foto: v.l. Didier Eribon, Luisa Fenn, Vanessa Vu, Sandra Hüller (Foto: Schauspiel Leipzig)

Nach einem anregenden, aber auch anstrengenden Messetag radele ich – der Versuchung widerstehend, lieber in meiner wohlig warmen Wohnung die Stille zu genießen, und meines Privileges bewusst, eine Karte zu dieser Veranstaltung ergattert zu haben – ins Schauspielhaus zur Buchvorstellung des neuen Bandes von Didier Eribon, angekündigt mit einer Lesung von Sandra Hüller. Eribon ist französischer Soziologe, Philosoph und Schriftsteller, zudem bekannter und beliebter Intellektueller seiner Zeit. Der Saal ist überfüllt mit einem neugierigen, vom Alter her sehr diversen Publikum, und erfüllt von Respekt und Bewunderung für die beiden prominenten Gäste. Vor lauter Ehrfurcht und Huldigung entsteht zunächst der Eindruck, als säße Eribon selbst – bescheiden und sichtlich gerührt stumm in seinem Sessel lauschend – neben den anderen vier Personen als Dekoration auf der Bühne. Zunächst stellt sich die Frage, wer der eigentliche »Star« des Abends nun sei, denn es vergeht ungefähr eine halbe Stunde – gefühlt eine halbe Ewigkeit – , bis der geschätzte Autor selbst zu Wort kommt: vorher wird der großen Autor gewürdigt, sich für sein Kommen bedankt,  die vielfach ausgezeichnete (undsoweiter) Sandra Hüller gewürdigt, sich für ihr Kommen bedankt, alle Gäste vorgestellt und endlich das Wort an eben jene Sandra Hüller übergeben, die erste Passage aus Eribons neuem Buch, »Eine Arbeiterin. Leben, Alter und Sterben« vorliest. Dass es sich um eine Übersetzung handelt, ist dem Text nicht anzumerken, was der hervorragenden Arbeit von Sonja Finck zu verdanken ist. Als Monsieur Eribon endlich die Gelegenheit hat, das Wort zu ergreifen, geizt er auch nicht mit Antworten auf die Fragen der Moderatorin Vanessa Vu, und lässt durch seine Ausführlichkeit das Herz eines jeden Frankophilen erfreuen. Und vermutlich das Herz der beachtenswerten Dolmetscherin, Luisa Fenn, vor Aufregung etwas schneller schlagen.

Thematisch pendelt das Gespräch zwischen Politischem und Privatem, deren Verknüpfung auch für seine Texte charakteristisch ist. In Eribons neuem Buch geht es um das Leben und den Tod seiner Mutter, die jahrelang in einer Fabrik gearbeitet hatte, fünfundfünfzig Jahre mit einem Mann verheiratet war, »den sie hasste« (so Eribon), und die aufgrund ihres körperlichen Abbaus in ein Pflegeheim zog, wo sie nach wenigen Wochen verstarb. Eribon erzählt offen, wie schwer es für ihn gewesen sei, die Entscheidung zu treffen, seine Mutter in einem Heim unterzubringen, und stellt sich die Frage, inwiefern ihr Tod mit der Unzulänglichkeit und der Überlastung des Gesundheitswesens zusammenhängt. Denn seine Mutter habe regelmäßig lange Nachrichten auf den Anrufbeantworter ihres Sohnes gesprochen, in denen sie beschrieb, dass man sie nicht täglich duschen lasse und sie nicht gut behandele – woraufhin die Leiterin des Hauses ihm auf Nachfrage erklärte, dass es am Personalmangel liege. Die Beschwerden seiner Mutter, ihre Nachrichten, waren allein an ihn gerichtet und brachten ihn zum Nachdenken über all Jene, die aus irgendeinem Grund nicht (mehr) für sich selbst die Stimme erheben können, deren Anliegen nicht an die breitere Öffentlichkeit gelangen können, die nicht die Kraft, die Mittel, die Möglichkeit haben, sich sozialen Bewegungen anzuschließen, politisch aktiv zu werden. Seine Kernbotschaft lautet: Wir, die (noch) mobil und handlungsfähig sind, sollten die abwesenden Stimmen all derer hörbar machen, die aufgrund ihres hohen Alters, aufgrund von Krankheit oder aufgrund ihrer marginalisierten Position in unserer Gesellschaft nicht selbst agieren können.

Die vorgelesenen Textstellen illustrieren sehr gut, wie im Werk Eribons Politik und Privates stets zusammen gedacht werden. Dass Sandra Hüller diese Aufgabe gut meistern würde, ist nicht überraschend und man würde gern noch mehr Eribon-Texte von ihr hören. Gerechterweise soll angemerkt werden, dass sie den Hype um ihre Person keineswegs anfeuert und den Lobgesang stets dankbar, aber charmant-zurückhaltend entgegennimmt. Hervorzuheben ist zudem die (nicht selbstverständliche) Bescheidenheit und Herzlichkeit von Eribon, der ehrlich gerührt zu sein scheint über die ihm entgegengebrachte Wertschätzung und am Ende sein Telefon zückt, um ein fotografisches Souvenir von seinen Gesprächspartnerinnen mitzunehmen.

Die eingangs gestellte Frage lässt sich zum Ende der Veranstaltung eindeutig beantworten: Der »Star« des Abends ist: die Dolmetscherin Luisa Fenn, die auf bewundernswerte Weise einen Dialog, ein geschmeidig rollendes Gespräch ermöglichte und nicht nur beide Sprachen hervorragend beherrschte, sondern während der Übersetzung der mäandernden Antworten Eribons auch von einer beeindruckenden Gedächtnisleistung Zeugnis ablegte.

 

Didier Eribon: Eine Arbeiterin. Leben, Alter und Sterben. Übersetzt von Sonja Finck, Suhrkamp, 2024, 25 Euro.
[Vie, vielleisse et mort d’une femme du peuple (Flammarion, 2023)]


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