anzeige
anzeige
Stadtleben

»Uns sollte es eigentlich gar nicht geben« 

Der CABL e. V. setzt sich für Menschen ohne Krankenversicherung und medizinische Regelversorgung in Leipzig ein  

  »Uns sollte es eigentlich gar nicht geben«  | Der CABL e. V. setzt sich für Menschen ohne Krankenversicherung und medizinische Regelversorgung in Leipzig ein    Foto: Stefanie Kopsch

Das Sprechzimmer ist unaufgeregt und ruhig. Ein großer Schreibtisch biegt sich in den Raum hinein, lässt aber genug Platz für den Dialog. Auf dem schmalen Regal an der Wand – gefüllt mit leeren Formularen und Behandlungsscheinen – thront die Urkunde des Zukunftspreises Leipzig. Es könnte sich beinahe um das Zimmer einer beliebigen Arztpraxis handeln, doch der Schein trügt. Ganz im Gegenteil dient dieses Sprechzimmer als Anlaufstelle für Menschen, die keine ausreichende medizinische Umsorgung erfahren. Der Verein »Clearingstelle und Anonymer Behandlungsschein Leipzig« (CABL) teilt sich seine Räumlichkeiten in Schönefeld mit dem Solidarischen Gesundheitszentrum Leipzig. Beide Vereine arbeiten an einer Gesundheitsversorgung, zu der alle gleichermaßen Zugang haben. Bereits seit 2019 engagiert sich der CABL e. V. als Clearingstelle für Menschen mit unbekannter oder ganz ohne Krankenversicherung. Clearing beschreibt dabei den Versuch, sie (wieder) in eine medizinische Regelversorgung einzugliedern. Doch wie kommt es überhaupt dazu, dass jemand keinen klaren Versicherungsstatus hat? »Die Motive sind sehr unterschiedlich«, erklärt der Sozialarbeiter Pit Strub. Der 31-Jährige ist in den Sprechstunden des Vereins tätig und hat regelmäßig mit den Betroffenen zu tun. Bei ihrer Arbeit müsse grundsätzlich zwischen Menschen unterschieden werden, die eigentlich krankenversichert, jedoch nicht wie vorgesehen im Gesundheitssystem integriert sind, und Personen, die gar keine Krankenversicherung besitzen, so Strub.  

Viele Wohnungslose sind betroffen

In § 193 Absatz 3 des Versicherungsvertragsgesetzes (VVG) heißt es, dass, wer in Deutschland einen gemeldeten Wohnsitz hat, krankenversichert sein muss. In der Praxis sieht es allerdings anders aus: »Es gibt Leute, die aufgrund von Diskriminierungserfahrungen schweren Zugang zum Gesundheitsversorgungssystem haben. Dazu gehören viele Wohnungslose«, sagt Strub. Wenn Schulden bei der Krankenversicherung anfallen, meldeten sich Betroffene oft nicht mehr bei den Kassen zurück. Auch ihr Versicherungsstatus sei einigen unklar. Das fünfte Buch im Sozialgesetzbuch beschreibt in Paragraf 188, Absatz 4 zwar, dass stets ein klarer Versicherungsstatus vorliegen müsse – allerdings gelte das nicht, »wenn die Krankenkasse trotz Ausschöpfung der ihr zur Verfügung stehenden Ermittlungsmöglichkeiten weder den Wohnsitz noch den gewöhnlichen Aufenthalt des Mitglieds […] ermitteln konnte.« Eine gesetzliche Krankenversicherung darf also ohne Kontakt zur versicherten Person und nach erfolglosen Nachforschungen diese bei sich abmelden. Gerade für Wohnungslose, die keine feste Anschrift besitzen, könne dies zum Problem werden, so Strub. Und dennoch hat der Sozialarbeiter Hoffnung: »Wenn sich jemand wieder zurückmeldet, muss die Krankenversicherung die Person eigentlich wieder aufnehmen.« Das gilt jedenfalls, wenn jemand nach 2013 zu einem Zeitpunkt versichert war. Auch wenn er oder sie sich nicht zurückmeldet, kommt es zu einer automatischen »freiwilligen« Weiterversicherung, die sogar Beiträge berechnet. Das gilt aber nicht für Menschen, die zuletzt vor 2013 versichert waren. Die Aufgabe des Vereins sei es dennoch, in beiden Fällen den Betroffenen zu helfen, die Eingliederung möglichst reibungslos und niederschwellig zu gestalten.  

Medizinische Versorgung von Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft

Davon abgesehen ist die medizinische Versorgung von Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft ein wichtiger Schwerpunkt des Vereins. Gerade für Personen aus dem Ausland oder ohne Aufenthaltsstatus stellt das deutsche Gesundheitssystem nämlich eine große Hürde dar. Das Sozialamt, das in letzteren Fällen eigentlich für die Behandlungskosten zuständig ist, ist gesetzlich verpflichtet, sein Eingreifen der Ausländerbehörde zu melden. Das Problem dabei: Aus Angst vor einer Abschiebung entscheiden sich viele der Betroffenen gegen eine medizinische Versorgung. Dies hat zur Folge, dass sich bei vielen der Gesundheitszustand langfristig verschlechtert.  

Stadt Leipzig trägt die Kosten

Damit Leute, die nicht in das Gesundheitssystem eingegliedert werden können oder möchten, trotzdem medizinisch behandelt werden, stellt der Verein anonyme Behandlungsscheine aus und erklärt sich damit auch bereit, die anfallenden Kosten einer medizinischen Betreuung zu übernehmen. Doch wie stemmt der Verein die Ausgaben, die etwa bei einem Armbruch mit Notfalltransport 4.000 bis 8.000 Euro betragen können? Die anfallenden Behandlungskosten werden vom Gesundheitsamt der Stadt Leipzig gedeckt. Sozial- und Gesundheitsamt übernehmen gemeinsam die Personal- und Materialkosten des Vereins (etwa für Gehalt, Büromaterial oder Fortbildungen). Seit Ende 2019 unterstützt die Stadt den Verein mit steigenden Beträgen entsprechend der Bedarfslage – nach zunächst 112.300 Euro fürs Jahr 2020 sind es fürs laufende Jahr 258.800 Euro. Dennoch, so betont Strub, seien Spenden extrem wichtig: Diese fließen nicht in die Behandlungskosten ein, finanzieren aber nicht-verschreibungspflichtige Medikamente. »Wenn die Kosten einer Behandlung auf mehr als 500 Euro steigen, muss der Arzt mit uns Rücksprache halten«, sagt Strub. Entsprechend den verfügbaren Mitteln sei es für den Verein kaum möglich, längerfristige Behandlungen oder stationäre Aufenthalte zu finanzieren. »Wir verstehen unser Angebot als eine Art Übergangssituation«, erklärt der Sozialarbeiter. »Unser Ziel ist es, Betroffene wieder in einen Krankenversicherungsschutz zu bekommen oder in eine Krankenabsicherung.« Langfristig soll jeder und jede im Krankheitsfall versorgt sein. 

Aktuell arbeiten im Verein fünf Leute, sie teilen sich zwei Vollzeitstellen. Jede Woche gibt es offene Sprechzeiten, die dienstags und donnerstags stattfinden. »Hier bieten wir neben der Vermittlung eine Anamnese und Beratung an, um dann an fachspezifische Ärzte zu vermitteln«, erläutert Strub. Zusätzlich gibt es auch eine mobile Beratung, die am Hauptbahnhof direkt vermittelt sowie mit freiwilligen Ärztinnen und Ärzten erste medizinische Versorgung leistet. »Optimal wäre, wenn Stellen wie die Mobile Hilfe, bei der Ärzte medizinisch tätig sind, bezahlt würden«, sagt Strub. »Aber gleichzeitig ist auch die Frage, ob an einem Punkt nicht mehr nur die Stadt Leipzig zuständig ist, sondern tatsächlich die Bundesebene, die gesetzlichen Krankenversicherungen.«  

Der Verein, so ist den Engagierten bewusst, stellt nicht die Lösung eines strukturellen Problems dar. »Uns sollte es eigentlich gar nicht geben. Es ist ein Unterschied, ob man einen gesetzlichen Anspruch auf etwas hat oder – wie bei uns – wir versuchen, die Leute zu unterstützen.«  

Schätzungsweise könne von etwa einer Million Menschen deutschlandweit ausgegangen werden, die nicht hinreichend versichert sind. Die Clearingstelle in Leipzig arbeitet dabei mit einer geschätzten Dunkelziffer. Im Jahr 2023 gab es bis Anfang Dezember 610 Beratungen im Verein, davon 340 Erstgespräche. Der Verein wurde im vergangenen Jahr mit dem Leipziger Zukunftspreis ausgezeichnet. Ein erster Schritt, findet Pit Strub: »Wir haben uns sehr gefreut und hoffen natürlich sehr, dass es nicht nur bei einem symbolischen Preis bleibt. Wir müssen Probleme anerkennen, um Veränderungen anzustoßen.« 

Zweiter Verein mit ähnlichem Ansatz

Am 11. Dezember 2023 hat auch der Verein Sächsischer Anonymer Behandlungsschein (SABS) den Betrieb aufgenommen, der sich ebenfalls um Menschen kümmert, die bisher durchs Gesundheitssystem fallen. Der Verein musste allerdings zum Jahresende seine Beratungen schon wieder einstellen, weil nach Kritik an Vergabe- und Verfahrensweisen des sächsischen Sozialministeriums unter Petra Köpping (SPD) ein Sonderbericht des Sächsischen Rechnungshofes unter anderem zur Novellierung der Förderrichtlinie inklusive Kürzung der Fördermittel des Ministeriums geführt hatte. Der SABS e. V. musste seine Angestellten im Januar erst mal in die Arbeitslosigkeit schicken – und Fördergelder neu beantragen. Am 4. März wurden diese bewilligt. »Von der Kürzung sind wir zum Glück nicht betroffen«, teilt SABS-Projektleiterin Sophie Pauligk dazu auf kreuzer-Anfrage mit. Die Beratungen des Vereins sind in der zweiten Märzwoche wieder angelaufen.


Kommentieren


0 Kommentar(e)