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Kultur

»Wagnerianer staunen ja eher passiv«  

Bachfest-Intendant Michael Maul über diesen Festivaljahrgang und das Mitsingen 

  »Wagnerianer staunen ja eher passiv«   | Bachfest-Intendant Michael Maul über diesen Festivaljahrgang und das Mitsingen   Foto: Bach-Archiv Leipzig

Unter dem Motto »Choral total« wird bei diesem Bachfest im Juni das 300. Jubiläum des Choralkantatenjahrgangs gefeiert. Bach-Chöre aus aller Welt werden jene 66 Kantaten aufführen, die der Thomaskantor im zweiten Jahr seiner Amtszeit, ab Juni 1724, komponierte. Weiterhin gibt es Konzerte mit herausragenden Interpretinnen und Interpreten, eine »Bachoper« und jede Menge Gelegenheiten, Choräle mitzusingen. Wir sprachen mit dem Intendanten des Bachfestes, Michael Maul. 

In den letzten Jahren sind dramaturgische Transformationen beim Bachfest zu beobachten: Es gibt immer mehr offene Projekte, an denen das Publikum sich beteiligen, mitsingen kann.   

Das ist ein Ansatz, den ich persönlich wichtig finde, und uns wurde gespiegelt, dass das auch beim Publikum sehr gut ankommt. Man schätzt in Leipzig die besondere Nähe zwischen Publikum und Künstlern, der Besucher bleibt nicht einfach Konsument, sondern kann mitmachen. Bei Bach passt das, denn ein Großteil seiner Musik, insbesondere der Vokalmusik, wird rund um den Globus ja oft in der Verbindung von hochambitionierten Laienchören mit Profis praktiziert. Diese Mischung ist etwas Besonderes. Der gemeine »Bachfan« zeichnet sich oft dadurch aus, dass er seinen Bach kennt, weil er ihn selbst musiziert hat. Wagnerianer staunen ja eher passiv. – Daneben braucht es aber natürlich ein Kernprogramm mit weltweit führenden Bachinterpreten. Die Mischung macht es. 

Wie war in diesem Zusammenhang die Resonanz auf den »Bach – We are Family«-Chor?  

Es gab großen Zuspruch, und viel mehr Anmeldungen als erwartet. Wir haben 110 Leute aus über 20 Nationen zugelassen. Die meisten haben Chorerfahrung. Es gibt aber eine Kapazitätsgrenze, denn auf der Empore der Thomaskirche ist nicht so viel Platz, auch musikalisch wird es irgendwann schwierig. In diesem Festivalchor werden alle innerhalb des Gottesdienstes am Sonntag, den 16. Juni in der Thomaskirche die Motette »Jesu, meine Freude« und jene Kantate aufführen, die Bach am gleichen Ort exakt 300 Jahre zuvor uraufführte. Wir werden das Format Festivalchor künftig zu einer Tradition machen. Es gibt abgesehen davon in diesem Jahr aber viele weitere Möglichkeiten, als Besucher des Bachfestes selbst mitzuwirken, angefangen mit der Johannespassion auf dem Marktplatz, wo das Publikum die Choräle singt. Im Choralkantatenjahrgang wollen wir vor jeder Kantate gemeinsam den zugrunde liegenden Choral singen und am Ende den Schlusschoral, der dann jeweils zweimal erklingen wird. 

Es reisen nun zahlreiche internationale semi-professionelle und Laien-Chöre an. Dahinter steckt eine ungeheure Logistik. Wie wird das Ganze eigentlich finanziert? 

Diese Bach-Chöre aus aller Welt kommen, um am Zyklus von Bachs Choralkantaten mitzuwirken. Wir haben 30 solche Chöre beim Bachfest, am Zyklus wirken 18 Ensembles mit. Wir geben allen Ensembles ein identisches Startgeld. Das sind allerdings Beträge, die für einen Chor, der von weither kommt, nicht einmal die Reisekosten decken, circa 12.000 Euro für ein Ensemble, das mit Chor, Solisten und Orchester anreist, als Pauschalbetrag. Wenn ein Chor ohne Orchester und Solisten kommt, haben wir angeboten, hiesige Musiker zu stellen, und der Unterstützungsbetrag fällt geringer aus. Am Ende mussten alle Ensembles selbst schauen, wie sie das finanzieren. Aber tatsächlich sind alle Ensembles dabeigeblieben, beseelt von dem Gedanken, einmal hier an Bachs Wirkungsorten, in der Thomas- oder Nikolaikirche singen zu können. Jeder hat dabei ein anderes Finanzierungsmodell. Der Bach Choir Bethlehem Pennsylvania, 1898 gegründet und der älteste amerikanische Bach-Chor, hat mit Fundraising für diese Pilgrimage 400.000 US-Dollar zusammenbekommen. Das Ensemble aus Malaysia erhält eine Unterstützung von 20.000 Euro vom Goethe-Institut für Reisekosten. 

András Schiff und John Eliot Gardiner sind herausragende Musikerpersönlichkeiten, die das Bachfest über viele Jahre hinweg mit geprägt haben. Diesmal fehlen beide … 

András Schiff hat in diesem Jahr eine andere Verpflichtung, er ist aber in den kommenden zwei Jahren wieder dabei. 2026 sogar mit einem großen Zyklus, den Bach’schen »Clavier-Übungen«, die wir innerhalb von vier Tagen in einer Gegenüberstellung sowohl am Cembalo als auch am Klavier aufführen werden. 

John Eliot Gardiner hat als Dirigent und Gründer des legendären Monteverdi Choirs eine Ära geprägt. Er wird nach seiner länger als erwartet dauernden Auszeit hoffentlich auch im nächsten Jahr wieder dabei sein.   

Tendenziell neigt sich die Ära despotischer Maestri am Dirigierpult dem Ende entgegen. Orchester prägen ein demokratischeres Bewusstsein aus, Barockensembles spielen teilweise ohne Dirigenten. Bedeutet das auch den Abschied von einem Klangideal? 

Gardiner ist sicher unter den Dirigenten der Alten Musik seiner Generation gewissermaßen der diktatorischste. Denn er spielt seinen Chor und sein Orchester so wie ein Organist sein Instrument. Er hat damit unglaubliche Ergebnisse erzielt, an denen aber auch alles durchkalkuliert ist. All die Pioniere der historisch informierten Aufführungspraxis gründeten ihre eigenen Ensembles in Zeiten, als es nur sehr rudimentäre Ausbildungsmöglichkeiten im Bereich der Alten Musik gab, und agierten als vollumfängliche Leiter. Heute werden von exzellenten Instituten in Amsterdam, London oder Basel Schwemmen von sehr gut ausgebildeten Musikern auf den Markt gelassen – das sind komplett andere Umstände als vor 40 Jahren. Viele der führende Bachensembles der jüngeren Generation funktionieren von vornherein eher als ein Team, denken wir an Vox Luminis oder Solomons Knot.   

In den neunziger Jahren hatte man ja das Gefühl, es gibt zwei Welten, zwischen denen eine Mauer existiert, die Welt der historisch informierten »Aufführungspraktiker« und die der »Klassiker«. Diese Mauern sind heute zum Glück nicht mehr vorhanden. Es wird anders gespielt, man hat sich angenähert – auch das Gewandhausorchester spielt heute einen ganz anderen Bach als noch vor 20 Jahren.  

Zu Gast ist in diesem Jahr die Geigerin Chouchane Siranossian. Wie wird man denn Artist in Residence beim Bachfest?  

Sie steht ganz für die zuvor beschriebene Entwicklung. Sie ist nicht nur im Repertoire des 17. und 18. Jahrhunderts auf der Barockvioline zu Hause, sondern auch auf der modernen Geige überragend. Dass passte sehr gut zu der Idee, Alban Bergs Violinkonzert ins Programm aufzunehmen. Wir wollen in diesem Jahr die Bandbreite von Choralbearbeitungen aufzeigen. Bergs Violinkonzert etwa zitiert am Ende einen Choralsatz aus der Bach-Kantate »Oh Ewigkeit, du Donnerwort« (BWV 60) – beides stellen wir direkt gegenüber. 

Chouchane Siranossian hat ein halbes Dutzend Einspielungen hingelegt, die mit Preisen überhäuft wurden. Aufgefallen ist sie mir zunächst durch diese Aufnahmen, und dann war sie 2018 und 2019 beim Bachfest, wo sie mit Vivaldi-Konzerten in überragender Virtuosität und Expressivität, verbunden mit voller Kenntnis der historisch informierten Aufführungspraxis die Leute von den Sitzen riss. Sie hat einen ganz besonderen Ton und eine unglaubliche Energie beim Musizieren.  

Die Oper »Apokalypse« wird angekündigt als »die Oper, die Bach nie geschrieben hat«. Die Operncollage arrangiert Musik von Bach im Parodieverfahren für ein Libretto über den Wiedertäufer Jan van Leiden. – Was hätte es gebraucht, damit Bach selbst eine Oper hätte schreiben können? 

Er hat mit seinen weltlichen Kantaten in Leipzig ja quasi Miniopern komponiert, aufgeführt von seinem Collegium musicum. Wenn man sich seine Passionen oder etwa die Eingangschöre seiner Kantaten anhört, wo er den Stil französischer Opern-Ouvertüren mit lutherischer Motetten-Praxis verschmelzen lässt, merkt man, dass Bach auch das dramatische und opernhafte Fach draufhatte. Oper war damals wie heute jedoch extrem kostspielig. In seiner Zeit vor Leipzig hätte Bach daher an einen Hof kommen müssen, wo man sich Oper hätte leisten können. Sein Weimarer Herzog hatte zwar ein Opernhaus, wurde aber im Laufe seiner Regentschaft immer frommer, weshalb er 1701 sein Opernhaus (leider) geschlossen hat. Fürst Leopold in Köthen hat zwar extrem viel Geld für Musik ausgegeben, aber Oper konnte er sich einfach nicht leisten. Schade eigentlich! 


> Bachfest »Choral total«: 7.–16.6. 

 

 

 


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