anzeige
anzeige
Kultur

Achtzehn Meter klein

Das Puppentheater Halle feiert seinen 70. Geburtstag mit einem Giganten-Festival

  Achtzehn Meter klein | Das Puppentheater Halle feiert seinen 70. Geburtstag mit einem Giganten-Festival  Foto: Anna Kolata

Ausgerechnet mit Ophelias Tod verwandelt sich der Abend in Bildgewalt. Das Dahinscheiden von Hamlets Liebschaft im Wasser wird als Filmszene eingeblendet. Plötzlich kommt Farbe auf, wachsen Disteln, wird die Bühne im Finale ins Blutrote getaucht. – Diese starken Bilder beeindrucken. Und wenn am Ende des Vaters Geist als Darstellerkörper sich des toten Figurenhamlets annimmt, ihn hochhebt und aus dem Raum trägt, ist das Figurentheater wieder ganz bei sich angekommen. Der Rest ist Schwelgen. Mit »Hamlet« beeindruckte das Puppentheater Halle vor einigen Jahren mit seiner klassischen perfekten Figurenführung und visueller Originalität. Das Theater an der Saale feiert in diesem Jahr 70. Geburtstag – und das ganz groß.

Dem Vorbild der Sowjetunion folgend, richtete die DDR staatliche Puppentheaterbühnen in allen Bezirken ein – 1954 auch in Halle. Nach der Wende, konkret seit 1995 wird dieses von einer Konstanten geprägt: dem künstlerischen Leiter Christoph Werner. »Das Theater hat die Tradition der DDR aufgenommen und kombiniert mit einer offenen Spielweise«, erklärt Ralf Meyer, auch seit 2000 Chefdramaturg am Puppentheater, dessen Charakteristik.

Hinzu kommt, dass das Theater den Spieler nicht zum Verschwinden bringt, ihn nicht verheimlicht. »Da wirkt manchmal die Puppe wie eine Waffe in den Spielerhänden«, sagt Meyer. In Halle geht man transparent mit dessen Verhältnis zur Figur um, zeigt die Doublette, die beide bilden. So, wie es heute in vielen Figurentheatern üblich ist, war es lange schon an der Saale zu sehen. Spielende und Puppen werden »zu Doppelgängern, spielen zusammen eine geteilte oder schizophrene Rolle«, so Meyer.

Als Handwerkszeug hat sich in Halle die sogenannte Vierfüßerpuppe durchgesetzt. Das ist eine sehr realistische Gliederpuppe mit Ziegenleder-Haut und eingesetzten medizinischen Augen. Hier klingt zugleich die japanische Bunraku-Tradition an. Die Puppen werden oft von drei oder vier Spielenden gleichzeitig geführt, was Gesten und lebensnahe Bewegungen möglich macht. Minutiös wird so auch die kleinste Regung der Figuren inszeniert – ein Blick, ein Neigen des Kopfes, ein Fußwippen.

Das Hallenser Puppentheater hat außerdem reichlich Erfahrung in der Literaturtheateradaption, man denke an den kolossalen Durchsteher »Die Buddenbrooks«. Meisterlich übertrug auch »Die Liebe in den Zeiten der Cholera« die Stimmung der Vorlage – eine Mischung aus Langsamkeit, Katharsis und Begehren – auf die Bühne. Auch hier brach sich die eigene Qualität der Figurenkunst Bahn, indem die Inszenierung den Weg des bloßen Nachspielens verließ – zum Beispiel mit Szenen, in denen die Figuren die Spielerkörper bespielen, was nicht nur ansehnlicher Kniff ist, sondern auch die theoretischen Fragen nach der Rolle, der Puppe, dem Schauspieler stellt. In »Die Liebe in den Zeiten der Cholera« hörte nicht etwa der Arzt die Fermina-Puppe ab, sondern er untersuchte die puppenführende Spielerin, die dafür extra den Rücken frei machte. Später turnte der Doktor zwischen den Beinen einer stehenden Patientin herum, die wiederum von einer Spielerin gegeben wurde. Überhaupt mischten sich in vielen libidinösen Szenen die Leiber von Puppen und Spielenden – so entsteht nicht nur Figurentheatererotik, sondern erotisches Figurentheater. So bekommt Gabriel García Marquez’ Stoff, seine Frage nach dem Leben, einen Weiterdreh: Wo, wie und worin lebt und begehrt das Leben auf der Bühne wie im Leben?

Mitten ins Stadtleben hinein entwirft das Puppentheater nun seine Jubiläumsfeier. Unter verschiedenen Programmpunkten sticht die Eröffnungsshow auf dem Marktplatz heraus: Das kostenlose Spektakel führt eine 18 Meter große Gulliver-Figur an. Diese macht das Publikum zu Bewohnerinnen und Bewohnern der Insel Liliput. »Durch die Größenveränderung gelingt ein anderer Blick auf den Menschen«, verspricht Dramaturg Ralf Meyer. Das spiegelt die Erfahrungen im Puppentheater. Später werden vier Teile von Gullivers Reisen in den anderen Spartenhäusern des Theaters gezeigt, Figurentheater mit anderen Formen der dramatischen Kunst gekreuzt. Das folgt einem Plan, so Meyer: »Wir wollen kein Spezialfestival für ein Puppenpublikum zeigen, sondern für alle Menschen.« Darum kommt die älteste Straßentheatergruppe Frankreichs auf den Markt, um jede und jeden mit gigantischem Figurentheater zu überwältigen.

> Gulliver-Festwoche, 15.–22.6., Halle


Kommentieren


0 Kommentar(e)