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»Ich dachte, das sei ein klassischer Einstiegsjob«

Wir sprachen mit Torsten Reitler über seine Kindheit in Grünau, Jugend zur Wendezeit – und ein halbes Leben in der Moritzbastei

  »Ich dachte, das sei ein klassischer Einstiegsjob« | Wir sprachen mit Torsten Reitler über seine Kindheit in Grünau, Jugend zur Wendezeit – und ein halbes Leben in der Moritzbastei  Foto: Christiane Gundlach

Ganze 17 Jahre ist Torsten Reitler alt, als er das erste Mal den geheimnisvoll anmutenden Keller der Moritzbastei betritt. Es ist Sommer im Jahr 1989, seine Band heißt Schandfleck. Im Sommer 1998 tritt er in der MB seinen ersten Job nach dem Studium an – den er nun im Sommer 2024 aufgibt, um ins Markkleeberger Kulturamt zu wechseln. Grund genug, um mit ihm über das Leipzig seiner Kindheit und Jugend, die veränderten Rahmenbedingungen subkultureller Arbeit in der Stadt und die Frage zu sprechen, welche Leipziger Band aktuell echte Hits produziert.


Können Sie sich noch an den ersten Abend in der Moritzbastei erinnern?

Das muss im Sommer 1989 gewesen sein – damals war ich zarte 17 Jahre alt und noch Schüler. Zu jener Zeit hatte ich eine Band namens Schandfleck. Eine befreundete Band hatte einen Gig in der Moritzbastei, und sie fragten uns, ob wir Lust hätten, als Vorband aufzutreten, was wir dann getan haben. Das war mein erster Abend dort.

Und wie war der?

Ich fand das beeindruckend! Ich erinnere mich, dass die Hauptband Songs gespielt hat für Freunde, die kurz zuvor über die offenen Grenzen in Ungarn ausgereist waren. Für die haben sie dann Kerzen auf die Bühne gestellt. Das war eine sehr bewegte und bewegende Zeit, und wir als Stifte waren mittendrin.

Hatten Sie selbst auch Freunde, die vor dem Mauerfall ausgereist sind?

Nein, dafür waren wir damals eigentlich noch einen Tick zu jung. Aber im Freundeskreis der Geschwister gab es schon Leute, die bereits Ausreiseanträge gestellt hatten, insofern war das Thema natürlich präsent.

Wie haben Sie Ihre Kindheit und Jugend in Erinnerung?

Ich bin in Grünau aufgewachsen. Als Kind war das ein toller Ort für mich, der weitestgehend verkehrsberuhigt, aber trotzdem relativ stadtnah war. Das ganze Viertel war damals voll von Kindern – gefühlt gab es alle 500 Meter eine Schule. Dadurch hatte ich viele Spielkameraden. Später habe ich oft von Leuten, die in anderen Stadtteilen aufgewachsen sind, zu hören bekommen, wie schlimm das gewesen sein muss, in Grünau groß zu werden. Aber das war es nicht. Erst später, mit 16, 17 Jahren habe ich angefangen, meine Fühler in andere Teile der Stadt auszustrecken und das Nachtleben zu erkunden. Da habe ich langsam gemerkt: Okay, die Welt ist noch ein bisschen größer als Grünau.

Wo ist man damals denn hingegangen?

Es gab Jugendclubs, die von der Stadt geführt waren. Die waren zwar nicht besonders subkulturell, aber ich glaube nicht, dass ich das dahingehend damals schon kategorisiert habe. Ich habe mich auf jeden Fall schon früh zu Orten hingezogen gefühlt, die ein bisschen rätselhaft und unvorhersehbar waren. Aber viel gab es dahingehend nicht. Eine Zeit lang wurden zum Beispiel Punkkonzerte in der Jungen Gemeinde veranstaltet. Später bin ich dann über Freunde zu irgendwelchen Hinterhofkonzerten in Connewitz oder Mockau gekommen, da habe ich mich ein bisschen gefühlt wie Alice im Wunderland. Man kam da rein und dachte: Was sind das für Leute? Was ist das für eine Welt? Aber um darauf aufmerksam zu werden, musste man zum Kreise derer gehören, die Bescheid wissen.

Und wie kamen Sie in die Kreise der Bescheidwisser?

Zum einen durch meine Band, in der ich mit 16 Jahren zu spielen begann. Niemand von uns konnte ein Instrument spielen, aber das war völlig unwichtig. Die Schwester eines Freundes war eine echte Punkerin, wie man so schön sagte, und von ihr haben wir ein bisschen was vom Look und vom rebellischen Gestus übernommen. So erschloss sich dann für uns Stück für Stück die Subkultur. Das war alles im Sommer 1989.

Kurz danach begannen die großen Demos in Leipzig. Wie schaute Ihr Freundeskreis auf die sich überschlagenden Ereignisse der Zeit?

Ich habe vor ein paar Tagen ein Zitat von einem Fotografen aus Halle gelesen, Sebastian Weiser heißt er. Er schrieb, in seinen Kreisen sei es in der Spätphase der DDR üblich gewesen, so zu leben, als ob es die DDR nicht gäbe. Da habe ich mich ein bisschen drin wiedergefunden. Ich komme aus einer unauffälligen bis konformen Familie. Eher staatsnah, würde ich sagen. Politische Fragen wurden zwar auch mal diskutiert, aber eher zurückhaltend. Dann bin ich den Kreis der Jungen Gemeinde gekommen, und da wurde sehr hart diskutiert: über Ausreisewellen, Repressionen und Ausbürgerungen. Bei den allermeisten Jugendlichen dort war ein sehr starker Wille zur Veränderung spürbar. Die Geister schieden sich dann später – nach dem Mauerfall – an der Frage: Wiedervereinigung – ja oder nein? Das DDR-Regime hat vorher ganz unterschiedliche Gruppierungen zusammengeschweißt: Umweltgruppen, Kirchgänger, Punks und Intellektuelle. Später, als das System unterging, ist das dann alles auseinandergefallen.

Wie sind Sie dann später zu Ihrem ersten Job in der Moritzbastei gekommen?

Ich war damals in der Endphase meines Journalistik- und Germanistikstudiums hier an der Uni und wusste, dass es mich beruflich nicht in den Journalismus zieht. Irgendwann kam dann eine Freundin auf mich zu, mit der Info, dass in der Moritzbastei eine Stelle eingerichtet werde für den Bereich Presse- und Öffentlichkeitsarbeit. Sie meinte: Bewirb dich doch! Na ja, das habe ich dann gemacht, und zu meiner eigenen Überraschung wurde ich auch genommen. Ich dachte, das sei erst mal ein klassischer Einstiegsjob für die nächsten zwei, drei Jahre. Dass dann 26 Jahre daraus wurden, hätte ich nicht für möglich gehalten.

Als kreuzer-Redakteur frage ich mich natürlich: Warum wollten Sie als Journalistikstudent kein Journalist werden?

Ich konnte mir nicht vorstellen, mich in einer Redaktion, etwa bei der LVZ oder dem MDR, unterzuordnen. Ich habe zwar viel für das Leipziger Kulturmagazin Persona Non Grata und gelegentlich auch für den kreuzer geschrieben, aber beruflich tat sich da keine ansprechende Option auf.

Sie sind seit mehr als 30 Jahren in der Leipziger Kulturszene verankert. Wie haben sich in dieser Zeit deren Rahmenbedingungen verändert?

Gravierend. Das kann man wirklich nicht mehr vergleichen. Als ich als Jugendlicher angefangen habe, subkulturell aktiv zu werden, war das Gefühl vorherrschend, dass eigentlich alles geht. Das war Resultat des durchaus glücklichen Umstands, dass wir keine Ahnung hatten, und wahrscheinlich auch unserer Selbstüberschätzung. Es war ja eine Zeit grundlegender gesellschaftlicher Transformationen – ein altes Gesellschaftssystem wurde durch ein neues ersetzt. Also war es möglich, dass irgendwer sagte: Dort drüben gibt es eine alte Gärtnerei, da machen wir am Wochenende eine Party. Und dann wurde das eben gemacht. Da ist nie jemand gekommen und hat genauer hingeschaut: Wo ist euer Sicherheitskonzept? Gibt es Fluchtwege? Wie steht es um die Lärmbelästigung? Es gab viel Freiraum, und den konnte man nach Belieben ausfüllen.

Und heute?

Auch heute gibt es im Vergleich zu vielen anderen Städten noch viel Freiraum in Leipzig. Das ist ja der Grund, warum immer noch viele junge Menschen aus anderen Städten hierhin kommen. Aber die Regeln sind natürlich deutlich verschärft worden. Du kannst zwar theoretisch noch unangemeldete Partys machen, aber nur einmal, und dann ist es sehr wichtig, dass du keine Spuren hinterlässt und alles abgebaut wird. Ansonsten hat man gleich Ordnungshüter vor der Nase, die dir sagen: Das geht so nicht. Das hat natürlich auch eine gewisse Berechtigung. Und das ist sicherlich auch der größte Unterschied.

Wie hätte Ihr 18-jähriges Ich auf diese heutigen Verhältnisse geblickt?

Ich habe erst gestern noch mit einem Kollegen über die Veränderungen innerhalb der Leipziger Subkultur und die anstehende Schließung des IfZ gesprochen. Wir haben beide festgestellt, dass sich das Publikumsverhalten in den letzten Jahren verändert hat, und wir hatten die Vermutung, dass Aspekte wie Gentrifizierung, Verdrängung oder Clubsterben vielleicht gar nicht der ursächliche Punkt dafür sind, sondern dass soziale Aspekte eher eine Rolle dafür spielen. In den frühen neunziger Jahren haben wir immer auf den Freitagabend, 21 oder 22 Uhr hingefiebert, weil man sonst den Rest der Woche einfach nichts machen konnte. Es war eine furchtbare Langeweile. Das Fernsehprogramm konntest du komplett vergessen. Es gab ein paar gute Radiosendungen oder Kinofilme, aber auch die befriedigten natürlich nicht das Verlangen nach sozialem Austausch. Es gab kein Netflix, kein Youtube, kein Insta. Die einzigen Clubs, die es damals gab, waren das Conne Island und die Nato, 1992 kam das Werk 2 dazu. Mehr gab es im Grunde genommen nicht. Insofern glaube ich, die heutige Kulturlandschaft in Leipzig wäre mir damals als geradezu traumhaft erschienen. Denn egal, ob du heute in Connewitz, in Plagwitz, in der Südvorstadt oder im Osten bist, du weißt immer: An irgendeiner Ecke wird schon was los sein.

Das heißt, Ihr Urteil wäre durch und durch positiv ausgefallen?

Nein. Wir hatten damals die naive Vorstellung, dass sich dieser Do-it-yourself- und Grassroots-Ansatz konservieren lässt, dass der sich von selber fortschreibt. Heute wissen wir natürlich, dass auch im Bereich Subkultur fast alles durchkapitalisiert ist. Selbst beim kleinsten Rave in einem hinterlegenden Waldstück muss geschaut werden, dass irgendwie ein bisschen Geld reinkommt, sonst geht’s nicht. Das hätte mir mit achtzehn wahrscheinlich nicht so gefallen.

Wie kommt es, dass der finanzielle Druck vor 30 Jahren weniger stark ausgeprägt war?

Dafür gibt es verschiedene Ursachen. Zum einen wurde damals natürlich vieles ehrenamtlich, also unbezahlt gemacht. Viele waren Idealisten und wollten für ihre Arbeit auch kein Geld haben. Das resultierte auch ein bisschen daraus, dass zu DDR-Zeiten ökonomische Zwänge weit weniger bedeutend gewesen sind. Wenn sich heute Leute in der Moritzbastei bewerben und ich ihnen sage: Ihr könnt hier Konzerte betreuen, ihr könnt in einer tollen Location arbeiten, aber Geld gibt es leider nicht so viel, dann drehen die sich gleich um und sagen: Nö. Außerdem gab es bis in die 2000er Jahre hinein eine Arbeitslosenquote von teils über 20 Prozent in Leipzig. Nicht wenige der Arbeitslosen haben sich dann gesagt: Wenn ich eh nirgendwo einen Job finde, dann mach ich halt mal eine Zeit was Sinnvolles. Dann hat man eben Arbeitslosengeld bezogen und sich nebenher irgendwo engagiert.

Sie wechseln nun Anfang Juli ins Kulturamt Markkleeberg. Warum?

Ich habe mir schon häufiger die Frage gestellt, ob ich das, was ich gerade mache, noch bis zur Rente mit 67 machen möchte. Und die Erfahrung der letzten Jahre hat mir gezeigt, dass es so, wie es sich entwickelt, nicht funktionieren wird. Es sind viele große Prozesse im Gang aktuell, die sich durch die Pandemie noch mal verschärft haben. Es gab schon zu Beginn der Coronazeit Gespräche mit dem Kulturamtsleiter, aber damals – in dieser allgemeinen Umbruchsphase – hätte es sich für mich falsch angefühlt, zu gehen. Jetzt wurde im Weißen Haus in Markkleeberg aber erneut eine Stelle frei und dieses Mal habe ich mich entschieden, mich darauf zu bewerben. Ich habe in der Moritzbastei erreicht, was ich erreichen wollte, und war an einem Punkt angekommen, ab dem sich alles nur noch wiederholt hätte. Daher dachte ich, es ist mal an der Zeit, dass jüngere Leute nachrücken.

Welche Fähigkeiten, die Sie in der Moritzbastei erlernt haben, nehmen Sie mit in den neuen Job?

Es gibt natürlich wahnsinnig viele Kontakte in den Kulturbereich. Es wird sicherlich keine Alternative-Rock-Konzerte im Weißen Haus geben, dafür aber zum Beispiel Poetry Slam, Impro-Theater, Lesungen oder Ausstellungen. In den Bereichen bringe ich durchaus viele Erfahrungen mit.

Warum glauben Sie, dass es im Weißen Haus keine Alternative-Rock-Konzerte geben wird?

Zum einen liegt das daran, dass Markkleeberg eine Nachbarstadt von Leipzig ist. Alle Leute, die sich für Konzerte dieser Art interessieren, können diese zum Beispiel in Connewitz problemlos mit dem Fahrrad erreichen. Die andere Sache ist, dass das Weiße Haus als Kulturstätte dafür aber auch einfach nicht geeignet ist.

Welche Ziele haben Sie sich für die neue Arbeit gesetzt?

Ich möchte ein interessantes Programm gestalten. Mein Ziel ist, dass das Programm die Menschen vor Ort erreicht, dass sie das Gefühl haben, da gehen sie gerne hin. Zugleich möchte ich eine Breite an verschiedenen Zielgruppen ansprechen, junge bis alte Menschen mit verschiedenen Interessen.

Fällt es Ihnen eigentlich schwer, einen Programmpunkt zu betreuen, der Sie persönlich nicht so anspricht oder den Sie persönlich vielleicht sogar öde finden?

Ich betreue in der Moritzbastei jedes Jahr 200 bis 250 Programmabende, davon mag ich persönlich sicherlich auch nicht alles gleich gerne. Unabhängig davon muss man als Kulturort natürlich auch wirtschaftlich denken und eine gewisse Programmbreite abdecken. Von daher buche ich natürlich auch Acts, die ich mir privat nicht unbedingt anschauen würde. Und das ist auch völlig okay so.

Die Rahmenbedingungen für kulturelle und subkulturelle Arbeit haben sich in den vergangenen Jahren, auch durch Pandemie und Inflation, verschlechtert. Was können, was sollten öffentliche Institutionen wie Kulturämter leisten, um dieser Entwicklung entgegenzutreten?

Kulturämter sind ja Verwaltungsapparate, keine politischen Einrichtungen. In Ämtern gibt es bestimmte Vorgaben, aber die Rahmenbedingungen dafür werden vonseiten der Stadtpolitik gesetzt. Deshalb muss die bezüglich solcher Fragen auch adressiert werden.

Gibt es ein Konzert in der Moritzbastei, das Ihnen besonders in Erinnerung geblieben ist?

Es gab unzählige tolle Konzertabende. Nur ein kurzer Abriss: The Hives, kurz nachdem sie ihr erstes Album veröffentlicht hatten, und bevor jeder wusste, was für eine irre gute Band das ist. Gunter Gabriel war mit seinem Johnny-Cash-Programm bei uns, Wir sind Helden haben eins ihrer ersten Konzerte bei uns gespielt. Die schönsten Abende sind aber grundsätzlich nicht unbedingt die, wenn große Namen kommen und das Haus ausverkauft ist. Klar, Konzerte von Phillip Boa sind schön. Aber ich persönlich kriege meist Gänsehaut in Momenten, in denen ich es nicht unbedingt erwarte. Wenn ich gebannt vor der Bühne stehe und mich frage: Was passiert hier eigentlich?

Im Februar 1994 hieß es im kreuzer über Ihre damalige Band Korus Hades, sie sei »die einzige, die derzeit in der Lage ist, echte Hits zu schreiben«. – Auf welche Leipziger Band trifft diese Umschreibung in Ihren Augen aktuell zu?

Ich finde zum Beispiel Shelter Boy gut, der lebt seit einiger Zeit in Leipzig. Nikita Curtis sind eine sehr junge Band, die ich ganz toll finde. Von einem ihrer Songs habe ich seit Wochen einen Ohrwurm. Ich mag auch Karl die Große, die ist leider kürzlich weggezogen aus Leipzig. Ich finde, sie hätte viel mehr Aufmerksamkeit verdient. Genauso wie Timm Völker, der tolle Sachen macht. Aber wenn es um richtige Hits im engeren Sinne geht, die auf dem Floor oder im Radio funktionieren, müsste ich wahrscheinlich Trettmann nennen. Wobei sich da die Frage stellt: Ist er Leipziger oder Chemnitzer?


Biografie:

Torsten Reitler wurde 1972 in Räckelwitz bei Kamenz geboren und wuchs in Bad Düben und Leipzig-Grünau auf. Seit seiner Schulzeit spielt er in Bands, mit einer davon – The Scandalous Smile – gewann er 1991 den ersten Leipziger Rockwettbewerb, mit einer anderen – Reitler – feiert er diesen Herbst zehnjähriges Bestehen. Nach dem Studium (Journalistik und Germanistik) an der hiesigen Uni ging er 1998 in die Moritzbastei, 26 Jahre später wechselt er dieser Tage ins Kulturamt nach Markkleeberg.


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