Was mit einer Besetzung des Audimax im Mai begann, endete mit einem Protestcamp am Mendelssohn-Ufer vor dem Geisteswissenschaftlichen Zentrum. Palästina-solidarische Studierende der Universität Leipzig und der HGB protestierten knapp zwei Monate an und um Leipzigs Hochschulen. Eine chronologische Zusammenfassung.
Der Beginn an der Universität Leipzig
Auf dem Boden des Hauptcampus standen Sprüche wie »All eyes on Rafah« mit Kreide geschrieben, aus den Gebäuden hingen selbstbemalte Transparente mit »Uni-Besetzung gegen Genozid«, während sich 13 Personen, darunter fünf Studierende der Universität Leipzig, im Audimax verbarrikadierten. Auf dem Innenhof am Hauptcampus versammelten sich am 7. Mai etwa 50 Studierende und Aktivistinnen und Aktivisten, die in Anbetracht der in der Nacht zuvor gestarteten israelischen Militäroffensive in Rafah ein Ende des Konflikts forderten. Sie bauten Zelte auf und aus einem Lautsprecher ertönten Redebeiträge und Demorufe. Zu dem Protest mobilisiert hat sich das erst in den frühen Morgenstunden zusammengefundene Bündnis »Palestine Campus«, an dem unter anderem verschiedene linksautoritäre Gruppen wie Zora, Young Struggle und der kommunistische Aufbau beteiligt sind. Auch der SDS Leipzig, im Gegensatz zu den anderen Gruppen eine offizielle Arbeitsgruppe an der Universität, hat für die Besetzung mobilisiert. Die Gruppen würden vorrangig ein Ende des militärischen Konflikts fordern und für Frieden in der Region protestieren, so zumindest nach Marius Schneider, dem Pressesprecher des Bündnisses: »Wir sind Studierende, wir schaffen es, gegen jeden anderen Krieg auf die Straße zu gehen, lass uns doch auch gegen diesen Krieg hier laut sein und am Ende eine Diskussion anstoßen«. Diese Gruppen sind in jüngerer Vergangenheit immer wieder durch lautstarkes Engagement in der Solidarität mit Palästina aufgefallen, andererseits aber auch durch ihre harte Kritik an Israel.
Deshalb formierte sich am Tag der Besetzung auch Gegenprotest. Gruppen wie die Jungsozialistinnen und -sozialisten in der SPD (Jusos) und das Junge Forum der Deutsch-Israelischen Gesellschaft (Jufo) haben sich auf dem Campus eingefunden, um ein Gegengewicht zu der Besetzung zu bilden. Aus ihrer Sicht würden die Protestierenden unter dem Deckmantel der Palästina-Solidarität vor allem einen Israel-bezogenen Antisemitismus verbreiten und dafür sorgen, dass sich jüdische, israelische und israelsolidarische Menschen häufig nicht mehr sicher auf dem Campus fühlten. Nils A. Neubert, Sprecher der Juso-Hochschulgruppe, spricht von »rhetorischer, aber auch physischer Gewalt«, die gegen »israelsolidarische Menschen, gegen Jüdinnen und Juden und gegen Israelis« angewendet worden sei. Dazu gehöre auch, dass bei der Besetzung Sprüche wie »bombardiert Israel« skandiert und die Gegendemonstrierenden als »dirty Zionists« bezeichnet worden seien. Somit würden diese Gruppen eine klare Bedrohung auf dem Campus darstellen: »Es sind Akteure wie Handala Leipzig, Zora, Young Struggle und der Kommunistische Aufbau die dazu beitragen, dass sich jüdische Studierende an der Universität nicht mehr sicher fühlen.«
Auch die Universität Leipzig sah eine konkrete Bedrohungslage für die Studierenden und entschied sich um 15:30 Uhr dafür, die Besetzung polizeilich räumen zu lassen. Sie habe inzwischen Strafanzeigen gegen einige Besetzerinnen und Besetzer wegen Hausfriedensbruch und Sachbeschädigung gestellt. Zwar zeigte sich die Universitätsleitung verständnisvoll für die Kundgebung auf dem Innenhof, zog jedoch klare Grenzen bei antisemitischen Äußerungen und Handlungen, vor allem bei der Besetzung des Audimax: »Wenn es zu Rechtsverletzungen kommt, wenn Angst um sich greift, dann müssen wir entschieden handeln. Wir hatten eine durchaus schwierige Abwägung zwischen dem Sicherheitsbedürfnis unserer jüdischen Studierenden und Mitarbeitenden und dem Recht auf freie Meinungsäußerung und friedlichen Protest zu treffen. Die Universität muss ein Diskursraum sein, in dem auch kontrovers debattiert werden kann und muss. Dies fällt umso leichter, wenn dem für uns essenziellen Konsens, Antisemitismus keinen Platz an der Universität Leipzig zu geben, Folge geleistet wird«, erklärt Prof. Dr. Eva Inés Obergfell, die Rektorin der Universität Leipzig.
Eine zweite Besetzung
Einen Tag nach der Besetzung des Audimax, am 8. Mai, nannte eine Gruppe Studierender an der Hochschule für Grafik und Buchkunst (HGB) den Lichthof in Bisan’s Hof um – in Anlehnung an die palästinensische Journalistin Bisan Owda, die seit Oktober aus dem Gazastreifen berichtet, und besetzte ihn. »Die Hochschulleitung hat sich entschieden, die Aktion im Lichthof – zeitlich begrenzt – stattfinden zu lassen. Ausschlaggebend war hierfür die Absicht, in einer stark polarisierten und emotionalisierten Situation, einen Weg des Dialogs zu verfolgen, der zum einen das Recht der Studierenden auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit in den halböffentlichen Räumen ihrer Hochschule wahrt. Andererseits hat die Hochschulleitung eine Reihe von Gesprächsangeboten entwickelt und kommuniziert mit dem Ziel, den offenen Diskursraum in der HGB zu erhalten und den Austausch zwischen Hochschulangehörigen unterschiedlicher politischer und nicht-politischer Meinungen aufrechtzuerhalten«, erklärte die Rektorin Agnes Wegner gegenüber dem kreuzer. Neben dem Banner mit der Aufschrift »und wir sollten reden«, das Elisabeth Stiebritz und Ronny Avira, aus der Klasse Fotografie und Medien von Ines Schaber zum Rundgang in den Innenhof aufhängten und damit unter anderem auf die Situation vor den Wahlen in Sachsen hinwiesen, hing nun das Banner »Bisan’s Hof. All eyes on Rafah«. Zudem wurden Sitzmöglichkeiten und Tische aufgestellt, Stoffe für Projektionsfläche aufgehängt, sodass der Lichthof an den Seiten nicht einsehbar war. Wer die Kunsthochschule über den Haupteingang betrat, lief auf einen Sockel mit der Faust und dem Slogan »Free Palestine« sowie einer Melone zu. Weil sie die gleichen Farben wie die Flagge hat, ist die Melone zu einem Symbol für Palästina geworden. Auf einem Tisch lagen unter anderem Kopien des Textes von Judith Butler »Exercising Rights Academic Freedom and Boycott Politics«. Die Initiative agiert unter der Abkürzung HGW, die für Hochschule gegen Genozid und Waffenlieferung steht.
Die Hochschulverwaltung sei sich der »Fragilität dieser Situation sehr bewusst« gewesen und in engem Kontakt mit den Besetzerinnen und Besetzern gestanden, damit es nicht zu Grenzüberschreitungen gekommen wäre und hätte Hilfe für diejenigen Studierenden angeboten, die sie sich vor der Situation ängstigten, schildert die HGB dem kreuzer schriftlich.
Offener Brief zur Situation an der HGB
Am 5. Juni schrieb eine Gruppe von Studierenden und Alumni der HGB einen offenen Brief, den sie auch an Medien schickte. »Wir gehen an die Öffentlichkeit, da wir als jüdische und nicht-jüdische Studierende antisemitische Erfahrungen machen mussten. Mit Sorge, Befürchtung und Angst beobachten wir nun seit mehr als einem Monat, wie pro-palästinensische Aktivist*innen den prominenten Ort des Lichthofes innerhalb der HGB besetzen und eine dominante Präsenz zeigen. Diese Präsenz als künstlerische zu verklären und ihr damit einen geduldeten Rahmen zu verleihen, sehen wir als Verhöhnung von Kunst, künstlerischem Schaffen und eines sicheren Studienortes an.« Der Brief spricht »Vorfälle von Einschüchterung und massiver Verbreitung von Propaganda in Form von antiisraelischer Hetze und Antisemitismus« an mit der Folge: »viele Studierende trauen sich nicht mehr in die Hochschule und meiden diese, benutzen ausschließlich die Hintereingänge oder betreten das Hochschulgebäude nur noch zu bestimmten Uhrzeiten. Innerhalb vieler Klassen kam es zu Auseinandersetzungen und Diskussionen, aber auch zu Beleidigungen und haltlosen Unterstellungen.« Auch im Wissen um die Kommunikationsversuche seitens der Hochschulleitung stellen die Briefschreibenden die Frage: »Aber wie ist es möglich, offene Räume zu schaffen, wenn von Seiten der Protestierenden ständig vom ›Apartheidstaat Israel‹ die Rede ist, wenn ungeschönt antizionistische Propaganda verteilt wird, in der Israel als ›imperialistischer‹ und ›rassistischer‹ Staat diffamiert und dämonisiert wird, der sich durch eine ›ethnische Säuberung‹ gegründet habe? Wie ist es möglich, wenn in Form von Flyern oder Graffiti dieselbe Hetze verbreitet wird, in denen direkt der Gewaltaufruf zur ›Intifada‹ verlautbart wird (Der Begriff Intifada bedeutet im Arabischen »Aufstand« und wird zumeist mit zwei Wellen des Protestes bis hin zu antisemitischen Terrors gegen die israelische Bevölkerung in Verbindung gebracht, Anm. d. Red.) Wie ist es möglich, einen offenen Raum zu schaffen, wenn in regelmäßigen Abständen im Lichthof Filmvorführungen stattfinden, in denen Filme oder Vorträge gezeigt werden, die das Existenzrecht Israels leugnen und offen für Bewegungen wie BDS (Boycott, Divestment and Sanctions) werben, welche die wirtschaftliche, kulturelle und politische Isolierung Israels propagieren?« Enttäuscht zeigen sich die Studierenden und Alumni von der Leitung der Hochschule, dass sie »keine eindeutige Stellungnahme zum Existenzrecht Israels abgegeben hat. Wir wissen auch, und dies sorgt und erschüttert uns, dass diese Proteste durch Lehrende innerhalb der HGB gestützt, geschützt und gefördert werden.« Nach ungefähr vier Wochen – am 10. Juni – löste sich die Besetzung des Lichthofs auf. Die Gruppe schloss sich dem neu aufgebauten Protestcamp der Universität an.
Protestcamp
So ist nach den Aktionen und Besetzungen an der Universität und der HGB der Protest der Palästina-solidarischen Gruppen schließlich an die städtische Öffentlichkeit gegangen. In den frühen Morgenstunden des 10. Juni wurden vom Bündnis Palestine Campus im zentral gelegenen Schillerpark Zelte aufgebaut und ein Camp errichtet. Für eine Person aus dem Camp, die sich dem kreuzer als Noah Sommerfeld vorgestellt hat, sollte so gezeigt werden, dass der Protest auch jenseits der Besetzungen an den Hochschulen weitergeht: »So wie das Leiden und massenhafte Morden an den Palästinenser*innen weitergeht, so muss auch unsere Solidarität und unser Widerstand weitergehen.« Doch auch in dem Camp waren die gängigen anti-israelischen Schlagworte etwa auf Transparenten und Schildern allgegenwärtig: Kolonialismus, Apartheid, Genozid. Die Gruppe Associazione Sapere Aude (ASA), ein loser Zusammenschluss Studierender und Mitarbeitender der Universität Leipzig, die die Proteste seit Beginn kritisch beobachtet, hat dokumentiert, dass die Gruppe Young Struggle Flyer verteilt habe, auf denen zur globalen Intifada aufgerufen wurde, von Handala Leipzig habe es entsprechende Buttons gegeben. Für Sommerfeld war dieses Camp im öffentlichen Raum der nächste richtige Schritt des Protests. Da die Universität Sommerfelds Auffassung nach eine rein friedliche Besetzung hat räumen lassen und nicht auf die Forderung nach einem vollständigen akademischen Boykott israelischer Universitäten eingegangen ist, sei es wichtig gewesen, den Protest sichtbar in die breite Stadtgesellschaft zu tragen. Dabei sei das Camp bewusst als neue Form des Protests genutzt worden: »Es soll auch Ort für Austausch und Diskurs sein, weil es sonst schwer ist, Orte dafür zu finden. Außerdem war es uns wichtig, einen visuell sichtbaren, physischen Ort zu schaffen, der stellvertretend für eine palästinensische Befreiung steht. Demos reichen nicht.«
Schon bald aber wurde das Camp auf Geheiß der Stadt an das Mendelssohn-Ufer in der Beethovenstraße verlegt. Grund dafür war die Fußball-Europameisterschaft der Männer. Der Schillerpark wurde als Evakuierungsfläche für die Menschenmassen in der Innenstadt gebraucht. Auf Instagram spricht Palestine Campus hingegen von einer Einschüchterungstaktik gegen die Bewegung und davon, dass die Stadt die Profite aus der Europameisterschaft über das Versammlungsrecht und das Recht auf freie Meinungsäußerung stelle.
Aus Sicht von David Quosdorf aus dem Referat Kommunikation der Stadt sei es aber tatsächlich allein um Sicherheitsfragen gegangen. Die Stadt sei mit dem Camp in Verbindung getreten und habe verschiedene alternative Standorte vorgeschlagen. Sogar im Schillerpark hätte der Protest weiter stattfinden können, wenn man zeitweise die Zelte und Pavillons abgebaut hätte. Der Vorschlag, das Camp an das Mendelssohn-Ufer zu verlegen sei schließlich von Palestine Campus selbst gekommen. Ansonsten gibt sich die Stadt verwaltungsrechtlich neutral und betont unpolitisch. Grundsätzlich sei das Camp derzeit von dem Versammlungsrecht gedeckt und könne weiter stattfinden: »Der Versammlungsbehörde ist nicht bekannt, dass von Teilnehmern pro-palästinensischer Versammlungen in Leipzig konkrete Bedrohungen an Dritten ausgingen. Soweit sich Versammlungen im gesetzlichen Rahmen bewegen, insbesondere keine Straftaten begangen werden und von ihnen auch sonst keine Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung ausgeht, sind diese Proteste durch die Versammlungsfreiheit grundsätzlich gedeckt«, so Quosdorf. Das könne sich aber natürlich ändern, sobald der Stadt bekannt würde, dass von dem Camp konkrete Gefahren für Einzelne oder die öffentliche Ordnung ausgehen.
Das Camp wurde bis zum 3. Juli angemeldet und ist am 9. Juli abgebaut worden. Noah Sommerfeld von Palestine Campus denkt aber über das Camp hinaus und verspricht, einen langen Atem zu haben: »Der Protest wird so lange weitergehen, bis es ein freies Palästina gibt.« Was ein solches freies Palästina im Sinne einiger der Protestierenden für Israel bedeuten würde, lässt sich leicht erahnen. Auf einem Transparent in dem Camp war wieder das Bild einer Melone zu sehen, gezeichnet in den Umrissen des heutigen Israels und der palästinensischen Gebiete.
Was bleibt?
Die HGB ist weiter mit den an der Aktion beteiligten Studierenden in Kontakt. Nach der Veröffentlichung des offenen Briefes von Studierenden und Alumni hat die Rektorin Agnes Wegner Kontakt mit den Initiatorinnen und Initiatoren aufgenommen wie die HGB dem kreuzer berichtete. Ein Gespräch fand noch nicht statt. Außerdem finde in der HGB nun eine Kontrolle von Aushängen und Wandbotschaften statt, »solche mit potenziell antisemitischem Inhalt wurden und werden unmittelbar entfernt«
Die Rektorin Prof. Eva Inés Obergfell der Uni Leipzig verspricht in einer Rundmail, den akademischen Diskurs durch öffentliche Veranstaltungen zu befördern: »Was wir können und tun sollten, ist, Wissen bereitzustellen, miteinander zu diskutieren, unsere Partner in Israel und im Westjordanland zu unterstützen«.
Zudem gab es bereits ein Gespräch zwischen Universitätsleitung und den Protestierenden des Camps. Nach Prof. Dr. Matthias Middell, der als ein Vertreter der Universitätsleitung an dem Gespräch beteiligt war, soll es ein guter Austausch gewesen sein: »Wir können nicht in allen Punkten übereinstimmen, aber wir teilen die Hoffnung auf ein schnelles Ende der Kampfhandlungen in Gaza.«