Eine Initiative von Kunst- und Kulturschaffenden in Sachsen hat unter dem Motto #machdeinkreuz eine Plakataktion gestartet. Vierzig künstlerisch gestaltete Plakate sollen die Menschen dazu animieren, am 1. September bei den Landtagswahlen ihre Stimme abzugeben. Die Idee hinter dieser und vielen weiteren Initiativen dieser Art ist klar: Angesichts der hohen Umfragewerte der AfD – bei Redaktionsschluss stand sie in allen drei Bundesländern, in denen im Herbst gewählt wird, auf Platz eins – will man Unentschlossene zum Wählen bewegen, um das demokratische Lager zu stärken. Nur steht das nirgendwo dabei.
Kaum eine der Kampagnen ruft explizit dazu auf, gegen die AfD zu wählen. Keines der Plakate (mit schönen Kunstmalereien und niedlichen Katzenbildern) positioniert sich politisch, noch nicht einmal für die Demokratie. Hauptsache, du gehst wählen, so die Botschaft: »Du hast eine schöne Stimme.«
Wahrscheinlich will man die Menschen nicht bevormunden oder in den Verdacht geraten, Wahlwerbung für eine Partei zu machen. Das ist verständlich. Zugleich steckt hinter all diesen Kampagnen ein Denkfehler, oder genauer: ein falsches Verständnis von Demokratie. Denn der formal urdemokratische Akt, wählen zu gehen, wird gleichgesetzt mit einer auch inhaltlich demokratischen Praxis. Jedoch sagt der Akt des Wählens erst mal nichts über die Einstellung der wählenden Menschen aus – man kann auch gegen die Demokratie wählen gehen. Die AfD steht hierfür exemplarisch: eine zutiefst antidemokratische Partei, die aber auf demokratischem Wege an die Macht kommen will. Sie orientiert sich dabei an den Erfahrungen rechtspopulistischer bis extrem rechter Parteien in Osteuropa, wie der PiS in Polen und der Fidesz unter Viktor Orbán in Ungarn, die – demokratisch gewählt – die Demokratie in einem schleichenden Prozess von innen heraus ausgehöhlt haben.
Betrachtet man die Wahlen vergangener Jahre, wird deutlich: Eine höhere Wahlbeteiligung bedeutet nicht zwangsläufig ein besseres Abschneiden demokratischer Parteien. So fand eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung zur Bundestagswahl 2021 heraus, dass sowohl Linkspartei, SPD als auch AfD die besten Ergebnisse dort erzielen, wo die Wahlbeteiligung niedrig ausfällt, wohingegen die Unionsparteien, FDP und die Grünen dort besser abschneiden, wo die Wahlbeteiligung hoch ist. Und das, so steht es in der Studie, »sind ausnahmslos Stadtteile und Wahlbezirke mit niedriger Arbeitslosenquote und hohem Durchschnittseinkommen.« So könnte der formale Aufruf, am 1. September wählen zu gehen, im Leipziger Westen durchaus den Grünen Stimmen bringen, im Landkreis Görlitz könnte er hingegen die AfD stärken.
Grundsätzlich, das ist ebenfalls aus Studien bekannt, gewinnt die AfD ihre Wählerschaft vor allem aus Milieus, in denen Politikverdrossenheit und Unzufriedenheit mit der Demokratie stärker verbreitet sind als im Rest der Gesellschaft. Also aus Milieus, in denen sich viele potenzielle Nichtwähler und Nichtwählerinnen tummeln. Bei den letzten Landtagswahlen im Oktober 2023 in Bayern konnte die AfD von allen Parteien die meisten Stimmen (80.000) aus dem Lager vorheriger Nichtwählender gewinnen, wie eine Umfrage von Infratest Dimap ergab. Was aber auch stimmt, ist, dass zum Beispiel SPD und Grüne bei der Europawahl im Juni zusammen drei Millionen ehemalige Wählerinnen aus der Bundestagswahl 2021 an die Nichtwählerschaft verloren haben. Das sind die Menschen, die die Wahl-Initiativen ansprechen wollen – die einfache Rechnung, dass mehr Wahlbeteiligung automatisch die AfD zurückdrängt, geht aber offensichtlich nicht auf.
Hinter den inhaltslosen Aufrufen zur Wahl steht die Vorstellung einer schweigenden demokratischen Mehrheit, die man aktivieren müsse. Doch was ist, wenn das gar nicht stimmt? Wenn die gegen rechts gerichtete Parole »Wir sind mehr« eine Illusion ist, wie man längst in vielen sächsischen Landstrichen am eigenen Leib erfahren kann? Das ist vielleicht der schwerwiegendste Fehler dieser Kampagnen, dass sie den formal demokratischen Akt des Wählens zum obersten Prinzip der Demokratie, und auch ihrer Verteidigung, erheben. Wenn sich aber die Mehrheitsverhältnisse noch weiter verschlimmern, also nach rechts bewegen sollten, und die AfD ganz demokratisch an die Macht kommt, beraubt man sich selbst der Argumente gegen die antidemokratischen Kräfte.
Schließlich haben sie, fair und demokratisch, im pluralistischen Wettstreit der Meinungen gewonnen. Und als überzeugter Demokrat, der den Fehler macht, formal demokratisch mit inhaltlich demokratisch gleichzusetzen, müsste man ›Volkes Willen‹ akzeptieren. Dagegen gilt, wie Wiglaf Droste es mal so treffend formuliert hat: »Wo Nazis ›demokratisch‹ gewählt werden können, muss man sie nicht demokratisch bekämpfen.« Oder anders gesagt: Faschismus kann zwar durch Wahlen an die Macht gelangen. Man wird ihn aber nicht alleine durch den Gang an die Urne verhindern können.