Menschen laufen auf einer Straße. Sie tragen Kränze und schauen in Richtung Kamera. Diese befindet sich an einem erhöhten Standort und lässt so auch den Blick auf die andere Seite der Straße zu. Hier gehen die Menschen in die andere Richtung und nehmen kaum Notiz von dem Gedenkmarsch. Die Aufnahme stammt von Julia Pirotte und sie hält eine Szene der Gedenkfeier zum fünften Jahrestag des Aufstands im Warschauer Ghetto am 19. April 1948 fest. An dem Tag findet die Einweihung des Denkmals von Nathan Rapoport statt. Nach eher privaten Erinnerungsfeiern nach 1945 anlässlich des Aufstandes wandelt sich die Erinnerungskultur in eine offizielle Form.
Das Foto ist eins von fast 150, die in 13 Kapiteln Bilder jüdischen Lebens im Nachkriegspolen beschreiben.
Ein Selbstporträt der Fotografin eröffnet die Ausstellung »Der bestimmende Blick. Bilder jüdischen Lebens im Nachkriegspolen« im Leibniz-Institut für jüdische Geschichte und Kultur – Simon Dubnow, die gemeinsam mit dem Jüdischen Historischen Institut Emanuel Ringelblum in Warschau entstand. Die Aufnahme stammt aus dem Jahr 1943. Damals befindet sich die 1908 in Polen geborene Fotografin und jüdische Kommunistin bereits im französischen Exil und hat sich der Résistance angeschlossen. 1946 kehrt sie nach Polen zurück, dokumentiert den Aufbau jüdischen Lebens nach dem Holocaust und vermacht ihre Aufnahmen dem Jüdischen Historischen Institut.
Im Jahr ihrer Rückkehr nimmt sie das zweite Foto im Eingangsbereich auf: eine Straßenszene in Warschau. Vor den Ruinen des Warschauer Ghettos stehen Straßenschilder. Eine Straße – Bohaterów Getta – erinnert an die Ghettohelden und die Mordechai-Anielewicz-Straße an einen Anführer des Ghetto-Aufstandes, der vom 19. April bis 16. Mai 1943 stattfand. Das Ghetto – Mitte 1940 errichtet und Sammellager für die Deportationen in das Vernichtungslager Treblinka – wurde dem Erdboden gleichgemacht. Wie konnte nach 1945 überhaupt wieder jüdisches Leben in die polnischen Städte und Dörfer einziehen?
Die Ausstellungsmacherinnen – Monika Heinemann, Agnieszka Kajczyk und Julia Roos – wählten dafür neben Fotografien von Pirotte Aufnahmen aus Alben, die als Auftragsarbeiten für den Wiederaufbau entstanden, und privaten Aufnahmen aus. Sie interessierte: »Was wurde für welche Zwecke fotografiert, was unmittelbar in Szene gesetzt, was ist heute nur mit Hintergrundwissen erkennbar? Was bleibt unsichtbar?«
Die Ausstellung beginnt unmittelbar 1945. Die Aufnahmen aus Niederschlesien wurden vom dortigen Jüdischen Komitee im Auftrag der Abteilung Kultur und Propaganda des Zentralkomitees der Juden in Polen angefertigt und mit deutschen, englischen und polnischen Beschreibungen versehen. Sie zeigen volle Synagogen, Arbeits- und Alltagsalltag bei der Neuansiedlung von jüdischen Menschen, die entweder aus der UdSSR oder aus dem KZ Groß-Rosen zurückgekehrt waren und sich in der niederschlesischen Stadt Rychbach ansiedeln und hier die Räume der geflohenen Deutschen beleben. Die Aufnahmen wollen Normalität nach dem Holocaust vermitteln, und doch zeigen kleine Details auch die Fragilität des Ganzen – etwa bei Aufnahmen von einem Selbstverteidigungskurs.
Am 4. Juli 1946 findet der Pogrom von Kielce statt, bei dem rund vierzig Holocaustüberlebende ums Leben kommen und fast einhundert Personen verletzt werden. Pirotte befindet sich vom Tag des Pogroms bis zur Beerdigung der Toten in der Stadt. Davon sind heute noch 16 Aufnahmen erhalten. Die anderen Fotografien hatte die Sicherheitsbehörde konfisziert. Nicht erst nach diesem Ereignis verließen viele Jüdinnen und Juden das Land. Andere Aufnahmen zeigen das jüdische Leben in der Volksrepublik wie beispielsweise von Józef Gitler-Barski (1898–1990), der mit seiner Familie aus dem Ghetto fliehen konnte, denunziert wurde und im KZ Bergen-Belsen die Befreiung erlebte. Später als Bankdirektor seinen Posten wegen Spionage verliert und danach als Direktor eine Süßwarenfabrik leitet.
Private Aufnahmen aus der Zeit sind in der Ausstellung in Holzrahmen vom Flohmarkt zu sehen. Dazu zählen die Aufnahmen aus dem Fotoalbum der Familie Bauman – von der Schriftstellerin Janina und dem Soziologen Zygmunt Bauman. Die Aufnahmen wählte ihre Tochter Irena Bauman aus und sie sind erstmals in der Öffentlichkeit zu sehen. Janina Bauman überlebt als Kind das Ghetto. Zygmunt Baumans Familie emigriert in die UdSSR, nach seiner Rückkehr wird er 1953 wegen »zionistischer Aktivitäten« seines Vaters aus dem Staatsdienst entlassen. Sieben Jahre später erfolgt die Rehabilitierung. Er erhält eine Professur und verliert diese 1968 im Zuge antisemitischer Kampagnen in der VR Polen wieder. 1971 verlässt die Familie das Land.
Die Ausstellung zeigt nicht nur erstmals Fotografien von Pirotte in Leipzig, sondern auch die sicht- und unsichtbaren Geschichten nach dem Holocaust. Eine sehr interessante und wichtige Ausstellung. BRITT SCHLEHAHN
> »Der bestimmende Blick. Bilder jüdischen Lebens im Nachkriegspolen«: bis Dezember 2025, Führungen: 15.8., 14 Uhr, 23.8., 17 Uhr, 28.8., 11 Uhr, Dubnow-Institut