Der Kinosommer ist überstanden, die Branche atmet auf. Die Startlisten waren ebenso gähnend leer wie die Säle. Ein Heilsbringer à la »Barbenheimer« war nicht dabei. Umso wichtiger also der Blick voraus. Und da warten einige Highlights auf das hoffentlich zahlreiche Publikum. Zur Eröffnung dürfen die Leipzigerinnen und Leipziger dann auch mal wieder die eigene Stadt auf der Leinwand bewundern: »Tandem« (s. kreuzer 03/24) erzählt einfühlsam eine queere deutsch-französische Liebesgeschichte.
»24. Filmkunstmesse«: 16.-20.9., Passage-Kinos
Film der Woche: Als seine beste Freundin Sonya plötzlich vor ihm steht, ist Joseph irritiert, war sie doch eigentlich zur Behandlung ihrer Depression in einer Klinik untergebracht. Auch zum Wohl ihres gemeinsamen Kindes. Nur mit Hilfe ihrer Mutter kann er sie zu einer Rückkehr bewegen. Beruflich läuft es ebenfalls nicht wie erhofft: Drehbuchautor Joseph hat sich vorgenommen, eine Komödie zu schreiben, über einen Mann, der Angst vor großen Statuen hat. Doch alles was sein Produzent im Skript finden kann, ist große Traurigkeit. Dass Josephs Arm dann auch noch in einem Snack-Automaten stecken bleibt, ist eigentlich nur logische Konsequenz seiner Antiheldenreise. Fabian Stumm ist nicht nur Hauptdarsteller in »Sad Jokes«, sondern auch Autor, Regisseur und Produzent. Ein Autor, der über einen Autor schreibt, der an einem neuen Film arbeitet – Stumms eigene Erfahrungen schweben als autofiktive Metaebene über dem Film und geben ihm ein Stück Authentizität. Alles Technische hat er aufs Wesentliche reduziert: Eine fast ausschließlich statische Kamera zeigt die Schauspieler in austauschbaren Kulissen. Was simpel klingt, ist am Ende große humoristische Kunst, und so nah am Leben, dass es fast weh tut. »Sad Jokes« bricht nicht ab, wenn es unangenehm wird, sondern geht immer noch ein Stück weiter als aushaltbar scheint. Und erschafft damit tragisch-komische Momente, die viel tiefer berühren als erwartet. HANNE BIERMANN
»Sad Jokes«: ab 12.9., Passage-Kinos, Luru-Kino in der Spinnerei
Ein Jahr nach dem Tod ihrer Mutter entschließt sich Ruth 1991, mit ihrem polnisch-stämmigen Vater Edek in dessen Geburtsland zu reisen und auch dem ehemaligen Konzentrationslager Auschwitz einen Besuch abzustatten, in dem Ruths Großeltern ums Leben kamen. Die gemeinsame Reise soll helfen, die Distanz zwischen Vater und Tochter zu überwinden. Doch im tristen und heruntergekommen Ostblockstaat kurz nach der Wende treten die unterschiedlichen Temperamente und Einstellungen der beiden immer wieder deutlich hervor. Julia von Heinz (»Und morgen die ganze Welt«) ist in ihrem ersten englischsprachigen Film dem Thema Faschismus treu geblieben und beleuchtet diesen nun aus einem historischen Blickwinkel. Doch anders als die meisten ähnlich gelagerten Filme ist »Treasure« über weite Strecken auch sehr humorvoll angelegt. Das liegt an Lilv Bretts autobiografischer Romanvorlage »Zu viele Männer«, in der sich diese ebenfalls mit viel Witz dem damaligen Trip mit ihrem Vater angenommen hatte. Aber auch die Besetzung der beiden zentralen Figuren mit den Komiker*innen Lena Dunham (»Girls«) und Stephen Fry (»Everything Now«) trägt dazu bei, dass man bei den Kabbeleien zwischen Vater und Tochter aus dem Schmunzeln nicht herauskommt. Trotzdem wird es an den richtigen Stellen ernst, und auch in diesen Momenten erweist sich die Besetzung als goldrichtig. FRANK BRENNER
»Treasure«: ab 12.9., Passage-Kinos, Regina-Palast
Trocken kommentiert Max sein Leben. Sein schwieriges Verhältnis zu seinem Vater, der Mutter die es irgendwann, als er noch klein war, nicht mehr bei ihnen aushielt. Seine gescheiterte Ehe und der gemeinsame autistische Sohn, der ihn mit seinen unkontrollierten Gefühlsausbrüchen in den Wahnsinn treibt. Seine Ehrlichkeit, vermischt mit seinem zynischen Humor kommen an und Max ist ein aufstrebender Star der Stand Up-Szene. Doch abseits der Bühne bekommt er sein Leben kaum in den Griff. Er lebt bei seinem Vater und holt seinen Sohn Ezra regelmäßig bei seiner Ex-Frau Jenna ab, die mit dem erfolgreichen Anwalt Bruce zusammen lebt. Die Schule ist überfordert mit Ezras Launen und der Arzt empfiehlt, ihn unter Medikamente zu stellen und auf eine Sonderschule zu schicken. Max will Ezra auf keinen Fall abschieben und entführt ihn kurzerhand. Die beiden begeben sich auf einen Road-Trip und kommen sich erwartungsgemäß näher. Auch wenn Regisseur Tony Goldwyn und Autor Tony Spiridakis hier wenig Neues erzählen, tut sie dies aufrichtig und mit viel Herz. Bobby Cannavale (»Ant-Man«) überzeugt in der Hauptrolle, William A. Fitzgerald als Ezra ist eine Entdeckung. In den Nebenrollen sind Rose Byrne und Robert De Niro zu sehen. Goldwyn (der selbstironisch die Rolle des unsympathischen Bruce übernahm) inszenierte ein charmantes Road-Movie, das die Balance zwischen Komik und Drama mühelos meistert.
»Ezra: Eine Familiengeschichte«: ab 12.9., Regina-Palast
Über tausend Jahre lang waren Bauern das Rückgrat der Gesellschaft in Europa. Landbesitz war gleichzusetzen mit Macht. Wer erbte, hatte ausgesorgt, wer mittellos war, blieb es zumeist. Der polnische Schriftsteller Władysław Reymont beschreibt das Leben in einer Dorfgemeinschaft detailreich in seinem Roman »Die Bauern«, für den er mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet wurde. Eine 1.000 Seiten umfassende Chronik, die schwer in einen Film zu fassen ist. Das polnische Regie-Duo DK und Hugh Welchman konzentriert sich mit seinem Drehbuch auf Jagna. Durch die Augen der jungen Dorfschönheit erzählen sie von der Zwangsheirat mit dem einflussreichen Bauern Boryna, einem herrschsüchtigen alten Witwer, der Ächtung der Gemeinschaft der Frauen, der Demütigung, weil sie das Patriarchat in Frage stellt. Zum Leben erweckt wird die Welt neben den Schauspielern vor allem durch die visuelle Gestaltung: Über 100 Maler in Polen, Serbien, Litauen und der Ukraine übermalten die Szenen in Öl, Bild für Bild, so wie es bereits eindrucksvoll beim oscarnominierten Künstlerdrama »Loving Vincent« geschah. So verbindet sich die Prosa mit den Werken der Maler dieser Epoche. Das Ergebnis ist durchaus beeindruckend. Allerdings gehen durch die Pinselstriche auch viele Details verloren, Schauspiel und Inszenierung sind nicht immer überzeugend und am Ende bleibt die Frage, ob die Form wirklich dem Inhalt gerecht wird.
»Das Flüstern der Felder«: ab 12.9., Cineplex, Passage-Kinos
Was passierte am 29. Juli 1988 am Sigernes See in Kongsvinger? Zu dieser zugegebenermaßen abstrakt klingenden Frage konzentriert sich diese Doku allmählich. Es geht mäandernd um eine wiedergefundene Schwester, die sich einst das Leben genommen habe. Rund tausend Meilen von Nordnorwegen entfernt trägt sich das in Schweden zu. Plötzlich gibt es noch eine Schwester mehr, taucht ein Familienmitglied nach dem anderen auf – und mit ihnen Fragen.
»The Gullspång Miracle« ist ein Film voller Fragen, über den man kaum schreiben kann, ohne zu spoilern. Es beginnt mit einem Steinbeinbruch auf einer Wildwasserbahn, führt über eine Immobilie, in der ein wundersames Stillleben mit Obst hängt. Die Hausverkäuferin erweist sich erst als alte Bekannte, dann eine Verwandte einer engen Verwandten. Und das wird wieder in Frage gestellt, dafür rückt ein anderes Schicksal samt neuen Familienbanden in den Fokus. Was geht hier wirklich vor? Hat Gott seine Finger im Spiel, wie einige der Porträtierten glauben? Wahrscheinlich nicht, aber nur weil das eher auszuschließen ist, wird man auch nicht schlauer.
Und dessen zwischenzeitliche Antworten wieder im Nebel des Ungewissen verschwinden. Dass man diesem Mäandern, welches der Film tatsächlich braucht, um sich zu entwickeln, so bereitwillig folgt, liegt an der eigenen Neugier. Hat man sich nämlich einmal eingelassen auf Maria Fredrikssons Detektivspiel, will man wissen, wie es weitergeht. Geschickt hat sie Interviewsequenzen und Spurensuchen zu einer spannungsgetragenen Doku montiert.
Denn es sind nicht die Charaktere, die allesamt leicht verschroben wirken, die durch den Film führen. Weder ihr zufälliges oder schicksalhaftes Zusammenfinden wie Verkrachen und Versöhnen. Man guckt wie durch einen Milchglasfilter auf diese Familiengeheimnisse, wundert sich und bleibt dran. Und meint, David Lynch und Aki Kaurismäki haben sich einen gemeinsamen Scherz erlaubt. Auch, weil hier etwas Krimi- oder Mysteryfilm mitschwingt, man sich als Zuschauer nicht immer bewusst ist, eine Doku zu sehen. Irgendwie schleicht sich das Gefühl ein, einer Inszenierung aufzusitzen. Und da das ja nicht sein kann, schwindet das Mirakulöse nicht restlos.
»Das Gullspång Geheimnis«: Passage-Kinos, 16.9., 17:15 Uhr
Weitere Filmtermine der Woche
The Breakfast Club
USA 1985, R: John Hughes, D: Anthony Michael Hall, Emilio Estevez, Ally Sheedy, 93 min
Eine Gruppe Jugendlicher muss an einem Samstag wegen verschiedener Vergehen in der Schulbibliothek nachsitzen. Legendärer Coming-of-Age-Film von John Hughes.
Cinémathèque, 15.09. 17:00 (Double Feature, Im Rahmen der Reihe »Parallelwelten«, OmU)
Typhoon Club
J 1985, R: Shinji Sômai, D: Yuichi Mikami, Yûki Kudô, Shigeru Kurebayashi, Saburô Date, 115 min
Der Underground-Klassiker von Shinji Sōmais zeigt fünf Tage im Leben einer japanischen Kleinstadt-Schulklasse, die von einem schweren Taifun heimgesucht wird. Die dramatische Situation bringt sie dazu, sich mit ihren eigenen Hoffnungen und Zukunftsängsten zu beschäftigen.
Cinémathèque, 15.09. 17:00 (Double Feature, Im Rahmen der Reihe »Parallelwelten«, OmU), 20.09. 20:00 (OmU, Im Rahmen der Reihe »Parallelwelten«)
300 Worte Deutsch
D 2013, R: Züli Aladag, D: Pegah Ferydoni, Christoph Maria Herbst, Christoph Letkowski, 96 min
Hodscha will anatolische Bräute für heiratswillige Türken nach Deutschland holen. Dabei steht ihm allerdings der Einwanderungsbeamte Dr. Ludwig Sarheimer im Weg.
Anker, 19.09. 16:30
Bis hierhin und wie weiter?
(D 2023, Dok)
Auf die Frage, wie weit Klimaaktivismus gehen darf, versuchen fünf Protagonisten nach einem Klima-Hungerstreik eine Antwort zu finden.
Kinobar Prager Frühling, 20.09. 18:00 (mit Regiegespräch)
Der kleine Horrorladen
USA 1986, R: Frank Oz, D: Steve Martin, Rick Moranis, Ellen Greene, 94 min
Der verklemmte Seymour findet eine merkwürdige Pflanze, die unaufhaltsam wächst und einen unstillbaren Hunger entwickelt. Schwungvolles Musical-Remake des Kult-B-Movies von Roger Corman.
Passage-Kinos, 15.09. 20:00 (Passagen-Werke, OF)
Kurzfilmwanderung
Die Kurzfilmwanderung feiert zusammen mit dem Kulturkiosk das Saisonende
Lene-Voigt-Park, 19.09. 19:00
Letztes Jahr in Marienbad
F 1961, R: Alain Resnais, D: Delphine Seyrig, Sacha Pitoëff, Giorgio Albertazzi, 94 min
In einem prunkvollen Barockschloss begegnet ein Mann einer Frau. Er erzählt ihr, sie hätten vor einem Jahr eine Affäre miteinander gehabt und diese Zusammenkunft verabredet, um gemeinsam ein neues Leben zu beginnen. Rätselhafter, labyrinthisch inszenierter Film von Alain Resnais und Alain Robbe-Grillet, ein Schlüsselwerk der Nouvelle Vague.
Schaubühne Lindenfels, 15.09. 18:30 (OmU)
Mitgefühl – Pflege neu denken
DK/D 2021, Dok, R: Louise Detlefsen, 91 min
Ein Pflegeheim in Dänemark praktiziert das Konzept der »Umsorgung«: Ein Rezept aus Umarmungen, Gesprächen, Augenkontakt, Kuchen und Cocktails.
Kinobar Prager Frühling, 19.09. 17:00 (mit Filmgespräch)
Nur eine Frau
DDR 1958, R: Carl Balhaus, D: Karla Runkehl, Rudolf Grabow, Lore Frisch, Eva-Maria Hagen, 105 min
Ein biografischer Film über die Frauenrechtlerin Louise Otto-Peters, Autorin sozialkritischer Romane und Gründerin der ersten Frauenzeitschrift Deutschlands.
KOMM-Haus, 19.09. 19:00
Patrullaje − Für die Rettung des Naturreservats Indio Maíz
NIC 2023, Dok, R: Patrullaje Camilo de Castro Belli
Der Dokumentarfilm zeigt die irreversiblen Auswirkungen durch Viehzucht und Bergbau auf die Umwelt im Indio Maíz-Reservat.
Clara-Zetkin-Park, 19.09. 20:00 (Im Rahmen des GlobaLE Filmfestivals, OmU)
Tearing Walls Down
TRK/D 2023, Dok, R: Serif Çiçek, 50 min
Anhand dreier Schicksale vermittelt der Dokumentarfilm eindrücklich unter welchem Druck und welcher Repression die Opposition in der Türkei steht und dennoch nicht aufgibt.
Cinémathèque, 19.09. 19:30 (Im Rahmen der Reihe »Licht & Hingabe − Filme & gespräche aus Kurdistan«, OmU)
Vergiftete Wahrheit
USA 2019, R: Todd Haynes, D: Mark Ruffalo, Anne Hathaway, Tim Robbins, 126 min
Der Kampf von Rechtsanwalt Robert Bilott gegen das Chemieunternehmen DuPont. Regiemeister Todd Haynes schildert den unbeirrbaren Weg eines Mannes, der überzeugt ist, das Richtige zu tun.
Clara-Zetkin-Park, 20.09. 20:00 (Im Rahmen des GlobaLE Filmfestivals, OmU)
Wendegeschichten: Riesa
D 2024, Dok, R: Michael Schlorke, 76 min
Wie wirken die Erfahrungen aus der Wendezeit fort – und wie wertvoll kann es sein in zwei Systemen gelebt zu haben?Der Dokumentarfilm begleitet Riesaerinnen und Riesaer auf dem Weg in die deutsche Einheit.
Ost-Passage-Theater, 18.09. 20:00