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»Ein einziges Mal bin ich in der Pause gegangen«

Winnie Karnofka über ihre letzte Spielzeit als TdJW-Intendantin, offene Räume und Leipziger Rumpeligkeit

  »Ein einziges Mal bin ich in der Pause gegangen« | Winnie Karnofka über ihre letzte Spielzeit als TdJW-Intendantin, offene Räume und Leipziger Rumpeligkeit  Foto: Christiane Gundlach

Der Blick aus ihrem Büro ist spektakulär. Winnie Karnofka überblickt aus dem Eckzimmer im Theater der Jungen Welt (TdJW) das Leben auf dem Lindenauer Markt. Um Lebendigkeit geht es der Intendantin auch in ihrer Theaterarbeit, wie sie im kreuzer-Gespräch betont.

Hat dieses Spielzeitmotto »Und das ist erst das Ende« mit Ihrem eigenen Ende am TdJW zu tun?

Natürlich ist es nicht abzustreiten, dass es etwas damit zu tun hat. Aber wir kamen durch die Frage darauf, was eigentlich das Ende ist. Und wie wir ein Ende bewerten. Warum hat ein Ende so ein schlechtes Image? Kann man das auch anders sehen? Wenn Kinder zum Beispiel sagen: Ich habe mein Kuscheltier verloren, ist das das Ende der Welt für sie. Wo sind diese Kippmomente, in denen wir sagen: Da bricht jetzt eine Welt für mich zusammen? An welchen Punkten entscheiden wir selbst, was ein Ende ist? Wie proaktiv kann ich entscheiden, was beginnt? Einige Stücke thematisieren diese Fragen.

 

Zum Beispiel?

Im Stück »T-Rex« geht es um eines der massivsten Enden auf dieser Erde und darum, wie ein junger T-Rex im Vergleich mit den älteren damit umgeht. Das Tanzstück »Mobb« thematisiert Mobbing an Schulen und dieses Gefühl von: Ich will hier einfach nur noch versinken. »Opium« beginnt mit einer philosophischen Frage: Kann es ein Ende nicht eigentlich nur geben, wenn es einen Anfang gab, und steht das Ende nicht am Anfang? Eigentlich geht es im Satz »Und das ist erst das Ende« gar nicht ums Ende, sondern um das »erst«, das über das Ende Hinausblickende.

 

Sie kommen aus einer künstlerischen Familie. Inwiefern hat Sie das geprägt?

Mein Großvater war Sänger und Intendant in Eisenach, mein anderer Teil der Familie waren Lehrer. Klar haben mich Theater und Kunst geprägt, aber ich merke tatsächlich auch die Lehrerfamilie in mir. Je älter ich werde oder je mehr ich in diesen Job reingekommen bin, desto mehr merke ich auch die politische Seite. Mein Vater war über viele Jahrzehnte Bürgermeister, also Kommunalpolitiker. Davon habe ich viel mitgenommen.

 

Meinen Sie die Vermittler- und Moderationsrolle, die das Gespräch sucht?

Genau. Mein Vater war als Politiker immer sehr auf Konsens und Diplomatie aus. Er hat auch beschlossen, jahrelang keiner Partei anzugehören und trotzdem Kommunalpolitik zu machen. Im Nachhinein finde ich seine Herangehensweise inspirierend: das Moderierende, aber auch, Stratege zu sein, um Gemeinschaft zu gestalten und Partizipation zu schaffen.

 

Ursprünglich sind Sie gelernte Buchhändlerin, richtig?

Ja. Ich hatte die Auswahl zwischen Fotografin und Buchhändlerin. Dann war das Wort aber stärker als das Bild und ich habe im nordhessischen Eschwege eine Ausbildung zur Buchhändlerin gemacht. Währenddessen habe ich wieder angefangen, Theater zu spielen, und mich gefragt: Bewerbe ich mich in der Schauspielschule? Konzepte zu entwickeln, fand ich spannend. Aber ich habe gemerkt, dass mich die Wiederholungen wahnsinnig langweilen. Auch Schauspiel wurde es also nicht. Stattdessen studierte ich Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen. Während des Studiums hatte ich angefangen, mich mit klassischen japanischen Theaterformen – Nō und Kabuki – zu beschäftigen. Ich habe dazu noch mal anderthalb Jahre in Kyoto und in Tübingen studiert. Dann musste ich tatsächlich Geld verdienen, ganz profan.

 

Und Sie landeten in der Dramaturgie?

Die Stelle als Dramaturgin bei Stefan Merki und Susanne Winnacker, damals Chefdramaturgin am Deutschen Nationaltheater Weimar, war frei. Ich weiß noch, wie ich im Bewerbungsgespräch ein Stück von Thirza Bruncken kritisierte, das ich davor gesehen habe. Ich bin aus dem Gespräch rausgegangen und dachte, das fanden sie bestimmt überhaupt nicht gut. Wahrscheinlich war es aber genau der Punkt, warum sie mir die Stelle angeboten haben. Mein erstes Stück, das ich mitbetreut habe, war dann ebenfalls von Thirza Bruncken.

 

Und wie fanden Sie vom Erwachsenen- ins Kinder- und Jugendtheater?
Die naive Frage, die aus dem Kinder- und Jugendtheater kommt, ereilte mich damals schon. Ich sagte immer zu Bruncken: »Das versteht doch keiner im Publikum!« Sie sagte: »Das ist mir egal.« Natürlich war ihr das nicht ganz egal. Aber gerade im Erwachsenentheater ist der Gedanke, Kunst um der Kunst willen zu machen, sehr präsent. Ich war ja in Weimar, Göttingen und als Gast am Musiktheater im Revier Gelsenkirchen. Irgendwann dachte ich: Es muss noch andere Zugriffe geben. Auch brauchte ich eine Pause vom Stadttheater. Dann wurde ich gefragt, ob ich mich nicht hier am Kinder- und Jugendtheater bewerben will.

 

Sie wollten.

Ich bin hergefahren und innerhalb von zwei Wochen entschied sich die Theaterleitung für mich. Ich hatte wahnsinnigen Respekt vorm Kinder- und Jugendtheater, weil ich keine Erfahrungen damit hatte. Jürgen Zielinski, der damalige Intendant, sagte: »Das kriegst du hin, mach doch mal einen Dreijahresvertrag.« Ich meinte, wir machen erst mal einen Jahresvertrag und ich gucke, wie es läuft. Dann lief es ziemlich gut. Wir haben uns gut ergänzt. Ich habe in dieser Zeit als Dramaturgin viel darüber gelernt, was Vermittlungskunst ist. Es war ganz anders als an den anderen Häusern, wo sie eher eine untergeordnete Rolle spielte. Hier steht das Publikum immer an erster Stelle.


Sie wurden im ersten Corona-Jahr TdJW-Intendantin. Wie herausfordernd war das?
Interessanterweise hatten die Erwachsenentheater ja eine massive Delle erfahren in den Besucherzahlen. Die Kinder- und Jugendtheater hielten aber mit ihrem Vermittlungsansatz ihre Zahlen oben und erreichten die Leute. Erstaunlich, was es auf einmal für Diskussionen mit anderen Intendanten aus Erwachsenenhäusern gab, wie wir das machen würden. Es war wie eine Zeit des Erwachens. Wir hatten plötzlich das Gefühl, als Theatermacher gesehen zu werden. Zwar ist das Interesse etwas zurückgegangen, aber die Frage bleibt, wie unsere Ansätze auf das Erwachsenentheater übertragen werden können. Wie gehe ich auf das Publikum zu, öffne mich einer Stadt? Welche vielleicht unbequemen Prozesse sind dafür notwendig? Zum Beispiel: aus der Struktur heraustreten, in Schulen gehen, mobile und kleine Formen spielen.

 

Während der Pandemie haben Sie solche innovativen kleinen Kooperationen, bestehend aus drei, vier Personen, umgesetzt.
Ja, aber Kinder- und Jugendtheater war schon immer eine Vertreterin der kleinen Formen. Ein Stück für Zweijährige funktioniert nicht vor achtzig Kindern. Aber diese Kleinheit musste ich in den letzten Jahren immer öfter verteidigen. Denn natürlich ist das nicht die Cash-Cow – aber deshalb ja nicht weniger wichtig! Wir brauchen sowohl die großen Formen als auch die kleinen. Es sind Zeiten, in denen mehr und mehr darauf geguckt wird, wie sich etwas rentiert. Ich frage mich, auf welche Art sich ein Theater rentieren muss. Der finanzielle Gewinn, den wir generieren, ist marginal. Aber am Ende ist alles, was wir hier tun, eine Investition in die Zukunft.

 

Als gesellschaftlicher Gewinn?
Wir versuchen, diese weichen Faktoren in den Vordergrund zu rücken; den soziokulturellen Aspekt. Ich will ihn eigentlich gar nicht so nennen, weil das so negativ klingt. Im Gegenteil ist es ein wichtiger Teil des städtischen Kinder- und Jugendtheaters, und ich meine: auch wichtig fürs Erwachsenentheater. Jürgen Zielinski fing schon an, unentgeltliche Projekte anzubieten, und wir haben das ausgebaut. Zum Beispiel gibt es seit dem Angriffskrieg auf die Ukraine jeden Donnerstag das »Play and connect«.

 

Das ist ein offenes Café zum Austausch?

Ja und nach wie vor erfolgreich. Es können sich nicht alle Theater so was leisten. Deswegen ist es wichtig, Sachen anzubieten, die sehr leicht zugänglich sind. Es geht darum, einen Raum der Partizipation zu öffnen, den die Leute auch als ihren Raum begreifen und sich aneignen können. Ziemlich am Anfang des Projekts fragte mich eine Frau, die Ballettunterricht in Kyjiw gegeben hatte, ob sie hier einen Workshop machen kann. Ich habe gesagt: Ja, klar! – Es ist extrem wertvoll, wenn Menschen sich trauen und einbringen wollen.

 

Sie sagten, Sie hatten die Nase voll vom Theater um des Theaters willen. Am TdJW konnten Sie Ihren Wunsch nach relevanterer Theaterarbeit realisieren?

Absolut, das war die Kehrtwende im positiven Sinn. Das ist auch das tränende Auge, wenn ich weggehe. Weil ich diese Arbeit mit Kindern und Jugendlichen einfach genieße. Bei allen Differenzen haben wir im Haus einen gemeinsamen Nenner: Wir machen qualitativ gutes Theater für unser Publikum. Und ich genieße die Arbeit, weil man direkte, ungefilterte Reaktionen bekommt.

 

Sie sprachen von Öffnung …

Wir bemühen uns, noch inklusiver zu werden und Leute zu erreichen, die uns gar nicht auf dem Schirm haben. Dann sagt jemand: »Ich wusste ja nicht, dass jemand wie ich bei euch in einem Club spielen kann.« Warum denn nicht? Neulich kam die blinde Mutter eines Dreijährigen zu uns. Durch die Audiodeskription konnte sie ihrem Sohn erklären, was auf der Bühne passiert. »Ich war noch nie zuvor im Theater, danke!«, sagte sie. Das passiert, wenn man einen Raum aufmacht. Ein Politiker sagte mal, wir müssten mehr Theater für die Mitte machen. Ich meine, wir sollten mehr Leute vom Rand in die Mitte holen. Wir sind eine Institution, die Brücken baut zwischen all den Sichtweisen, zwischen Alt und Jung, Menschen mit und ohne Behinderung, Konservativen und aktivistisch Denkenden.

 

Apropos Mitte: Im vergangenen Jahr forderte die CDU im Stadtrat, Ihnen wegen Genderns in einem Stück Mittel zu kürzen.

Das hat tief nachgewirkt ins Haus. Wir waren natürlich ein Spielball von übergeordneten parteipolitischen Interessen und nicht mehr kommunalpolitischen. Das fand ich massiv irritierend. Ich habe versucht, ins direkte Gespräch zu gehen, was tatsächlich nicht möglich war. Unsere Türen sind offen, auch über Wichtiges zu sprechen und nicht die Kritik an unserer Arbeit an einem Punkt aufzuhängen. Künstler:innen die Möglichkeit zu geben zu gendern, ist übrigens von der Kunstfreiheit gedeckt. Die Einladung zum Gespräch steht. Und ganz ehrlich: Wir gendern, weil das die Lebensrealität von vielen Kindern und Jugendlichen ist. Wir drücken nichts auf, es gibt den Bedarf für die Auseinandersetzung mit queeren Themen auf der Bühne. Aber das ist nur einer unserer Arbeitspunkte.

 

Besuchen Sie Aufführungen in anderen Theatern?

Na ja, gerade fehlt die Zeit. Im Frühjahr war ich recht oft. Und jetzt kommt es so langsam wieder. Darauf freue ich mich auch: wieder mehr Zeit fürs Theatergucken zu haben. Das war, auch durch die fehlende Verwaltungsdirektion, einfach zu wenig möglich.

 

Ihr Verwaltungsdirektor verlor seinen Posten?

Nach dem Wechsel von der ehemaligen Verwaltungsdirektorin Lydia Schubert an die Oper war es schwer, die Stelle neu zu besetzen. Dann gab es drei oder vier Auswahlprozesse und Interimslösungen. Dadurch waren viele Arbeitsfelder aus der Verwaltung auf meinem Schreibtisch.

 

Sie haben sich als Intendantin aus der direkten künstlerischen Arbeit zurückgezogen?

Ich habe anfangs gedacht, viel mehr Dramaturgie zu machen. Und musste schnell einsehen, dass das nicht möglich ist. Es war ein erstaunlicher Lernprozess zu sehen, worin die Kunst der Intendanz liegt. Du hast viel mehr Gestaltungsprozesse als noch vor einem Jahrzehnt, die zum Beispiel aus der Wirtschaft kommen und notwendig sind: inklusive und Transformationsprozesse hin zur Nachhaltigkeit, mehr und mehr moderierende Funktionen.

 

Also nicht als Zampano mal reinschneien, Anweisungen geben und andernorts inszenieren ...

Das funktioniert nicht mehr. Als Intendantin hat man mehr eine kuratierende Funktion. Man bringt die künstlerischen Visionen ein, die vom ganzen Team und von außen kommenden Künstler:innen umgesetzt werden.

 

Haben Sie jemals eine Vorstellung vorzeitig verlassen?

Ich habe immer Bücher zu Ende gelesen und Stücke ganz gesehen, weil ich dachte, dass auf den letzten Seiten der Satz kommt oder ein Bild, das mich begeistert. Deswegen war ich immer ein guter Aushalter. Aber es gab eine Operninszenierung, da bin ich in der Pause gegangen, weil ich mich wahnsinnig aufgeregt habe und wusste, dass da nichts mehr folgt.

 

War das in Leipzig?

Das kann sogar hier gewesen sein, da muss ich noch mal nachdenken. Ich habe schon verdrängt, was es war.

 

Ihren Vertrag haben Sie aus persönlichen Gründen nicht verlängert. Verlassen Sie Leipzig?

Es gibt einen wichtigen familiären Grund und der bedingt, dass ich weggehe. Ich werde mich also erst einmal wieder gen Thüringen bewegen. Ich habe noch keinen konkreten Plan und finde das auch mal ganz schön.

 

Was werden Sie vermissen?

Von den Menschen hier im fantastischen Team wegzugehen, fällt mir nicht leicht. Und von Leipzig? Ich habe mich nie so an Orte gehängt, weil ich in so einem Theaterleben immer viel unterwegs war. Es ist eher so eine Stimmung oder ein Flair, der Anfang der Georg-Schwarz-Straße zum Beispiel. Letztens stieg ich dort spätnachts aus der Tram und dachte: Was für ein cooler Abend, all die Leute, die Offenheit und die Möglichkeit, die gerade in diesem Moment liegt. Ich wohne da in der Nähe und habe den Wandel erfahren. Ich wollte nie wegziehen, sondern sehen, wie sich die Rumpeligkeit dort verändert und Projekte entstehen. Dieses Sich-Engagieren, eine gewisse Form von Freiheit, die ich in anderen Städten nicht empfunden habe, werde ich wohl am meisten vermissen. Momente, in denen Zukunft probiert wird.

 

Welches Stück würden Sie als Einstieg empfehlen, das TdJW kennenzulernen?

Eine gemeine Frage! Aber »Wuchs« wäre das, weil das zeigt, wie wir arbeiten. Es ist ein zugängliches Stück, ungewöhnlich und mutig. Denn es versucht, verschiedene ästhetische Mittel für kleine Kinder auf die Bühne zu bringen. Man sitzt im Kreis, schaut den Tänzer:innen zu, wie sie mit Material wie Zeitungen arbeiten, sich mit Stoffen in Wesen verwandeln und mit dem Publikum kommunizieren. Wie die Kinder dann anfangen, die Bewegung zu kopieren und den Erwachsenen zuzusehen, wie sie die Reaktionen der Kinder beobachten, das gefällt mir. Das ist Theater als ein Gemeinschaftserlebnis.

 


Bio

Winnie Karnofka, 1978 in Mühlhausen geboren, absolvierte eine Lehre zur Buchhändlerin und studierte Angewandte Theaterwissenschaft. Daran schloss sie das Aufbaustudium Interkulturelle Japan-Kompetenz in Tübingen und in Kyoto an. Nach verschiedenen Regieassistenzen und der Arbeit als Dramaturgin unter anderem in Weimar war sie seit 2013 als Dramaturgin fürs TdJW tätig. Mit der Spielzeit 2020/21 übernahm sie die Intendanz des Hauses, die im Sommer 2025 auf ihren Wunsch endet.


 


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