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Kultur

Nato statt Elfenbeinturm

Der Literarische Herbst bietet gegenwärtigen Themen eine Bühne – mit 60 Autorinnen und Autoren

  Nato statt Elfenbeinturm | Der Literarische Herbst bietet gegenwärtigen Themen eine Bühne – mit 60 Autorinnen und Autoren  Foto: Paula Winkler

»Ich finde es äußerst schade, dass ich die Kunst der Multilokalität noch nicht beherrsche«, sagt Nils Kahlefendt, der gemeinsam mit Anja Kösler und Jörn Dege den Literarischen Herbst 2024 organisiert hat (und hin und wieder auch für den kreuzer schreibt). An mehreren Orten gleichzeitig sein, das wäre ihm wichtig, um etwa beim Lyrikhotel in der Alten Post Lindenau den Versen von Thomas Kunst und Fedor Pellmann lauschen zu können, ohne dabei zu verpassen, wie Wolfram Lotz mit dem Schauspieler Fabian Hinrichs im Ost-Passage-Theater Mutmaßungen über die Wirklichkeit anstellt. Wenn Kahlefendt über das Programm des Literarischen Herbstes spricht, ist es, als würde er aus einer Speisekarte voller Gerichte zitieren, wovon auch nur eines nicht zu kosten ein ungeheuerlicher Frevel wäre. Zumal hier keine Rohkost auf den Tisch kommt, sondern ausgesuchte Zutaten ganz bewusst miteinander kombiniert werden, was für Kreationen mit Seltenheitsfaktor sorgt: »Uns kommt es auf Konstellationen an, auf spannende Begegnungen. Es wird zum Beispiel einen Abend mit Isabelle Lehn und ihrem neuen Roman über die Finanzkrise 2008 sowie Julia Friedrichs geben, die sich in ihrem Sachbuch ›Crazy Rich‹ ebenfalls mit Geld sowie der ungleichen Verteilung von Ressourcen in der Gesellschaft beschäftigt.«

Überhaupt sei das diesjährige Literaturfestival eindeutig politisch geprägt, von Elfenbeinturm könne da keine Rede sein. Zum Auftakt am 21. Oktober spricht Anne Applebaum, die Friedenspreisträgerin des Deutschen Buchhandels 2024, im Alten Rathaus mit Klaus Brinkbäumer. Am selben Abend stellt Jackie Thomae ihren neuen Roman »Glück« vor, der von Frauen in der Mitte des Lebens handelt – und den existenziellen Fragen, die sie sich angesichts gesellschaftlicher Erwartungen stellen müssen.

Im Literaturhaus ist Maria Stepanova (Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung 2023) zu Gast und spricht mit ihrer Lektorin Katharina Raabe und ihrer Übersetzerin Olga Radetzkaja über ihren Roman »Der Absprung«. »Man geht wahrscheinlich nicht fehl, wenn man Stepanova als die international erfolgreichste russische Dichterin der Gegenwart bezeichnet – da sind wir schon stolz, dass wir sie gewinnen konnten. Das Gespräch wird sicher intime Einblicke in den Entstehungsprozess eines Buches ermöglichen«, so Kahlefendt. Um Einblicke in den Entstehungsprozess einer Diktatur geht es bei Jens Bisky, der in der Albertina sein neues Sachbuch »Die Entscheidung. Deutschland 1929 bis 1934« vorstellt. Der Literarische Herbst muckelt sich erneut nicht mit Pumpkin-Spice-Latte und Wohlfühl-Literatur im Laubhaufen ein, sondern bietet gegenwärtigen Themen eine Bühne, welche Diskussionen nicht nur möglich, sondern beinahe unumgänglich machen.

Natürlich finden sich auch wieder die beliebten Festival-Formate im Programm: »Beste erste Bücher« im Ost-Passage-Theater ist schon beinahe Kult (diesmal unter anderem mit der Leipzigerin Ruth-Maria Thomas, die auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis steht; Rezension siehe aktuelle logbuch-Beilage). Hier habe sich eine neue Partnerschaft ergeben, erzählt Kahlefendt: »Im nächsten Frühling wird es das Format auch im Rahmen der Leipziger Buchmesse geben. Das bietet uns die Gelegenheit, einerseits schon im Frühling auf den Literarischen Herbst einzustimmen und andererseits junge Autorinnen und Autoren im Messeprogramm zu platzieren.« Gleichzeitig bietet der Herbst schon einen kleinen Ausblick auf die Leipziger Buchmesse mit ihrem Gastland Norwegen. Im Rahmen von »Du hast eine neue Freundschaftsanfrage« – das Format fand letztes Jahr erstmals mit dem letzten Buchmesse-gast Niederlande und Flandern statt – gestalten sechs Autorinnen und Autoren aus Norwegen und Leipzig einen literarischen Abend über die Freundschaft.

Eine neue Kooperation hat sich auch beim »Jungen Herbst« ergeben: Das Programm für Kinder und Familien findet in Zusammenarbeit mit dem Werk 2, der Halle 5 und der Initiative Junges Literaturbüro Leipzig statt. Hier gibt es unter anderem Lesungen für Kitas und Schulklassen, einen Workshop mit dem mehrfach ausgezeichneten Bilderbuch »Bus« von Christina Röckl (Rezension im Frühjahrs-logbuch 2024) und ein Kinderlieder-Mitmachkonzert.

Wenngleich die Bücher natürlich im Vordergrund stehen, gehörte auch dieses Jahr wieder ein Musikabend zu den Herzenswünschen des Organisationsteams: »In der Nato tritt Bernd Begemann auf, ein großartiger Typ mit Konzerten, die selten kürzer sind als drei Stunden«, freut sich Kahlefendt.

Nach dem Eklat um Alice Schwarzer im vergangenen Jahr sucht man diesmal vergeblich eine ähnlich polarisierende Person im Programm. Ob Schwarzers Auftritt Konsequenzen für die diesjährige Planung hatte? Nils Kahlefendt sagt, er wisse nicht, welche das sein sollten: »Wir haben den Anspruch, ein Literaturfestival für die ganze Stadt zu sein, und möchten keine Diskursausschlüsse vornehmen. Ein breiter Bogen an Meinungen, Standpunkten und literarischen Formen ist uns sehr wichtig.«


 > 21.–27.10., verschiedene Orte, www-literarischer-herbst.com

 


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