Wie immer in den letzten Jahren präsentiert sich Dok Leipzig in der ganzen Stadt mit einem etwas kryptischen Alltagsgegenstand auf seinen Plakaten. Dieses Jahr sind es zwei klassische Gewichte, wie man sie vielleicht noch von Großmutters alter Küchenwaage kennt. Im Unterschied zu dem Schlüssel, dem Lichtschalter und der Schere der letzten Jahre spielen diese Gewichte im Alltag durchschnittlicher Dokumentar- und Animationsfilmfans vermutlich eher keine Rolle – dafür ist die Interpretation des Motivs (das wie die vorigen von Stefan Ibrahim stammt, der im kreuzer die Episoden aus dem Stadtrat illustriert) diesmal etwas leichter: Welches Gewicht, welche Schwere oder auch Gravitas messen wir bestimmten Situationen bei?
Dok Leipzig will natürlich wie immer so viele Perspektiven wie möglich schaffen und nimmt dafür mit den seit vielen Jahren fest im Programm installierten Animationsfilmen wieder viele kreative Medien ins Programm auf. »Olivia & the Clouds« beispielsweise ist ein Film aus der Dominikanischen Republik und mischt Stop-Motion, Animations- und Experimentalfilm. Aber nicht nur die Animationstechniken fordern das Publikum heraus, auch die Storys des Films sind oft unkonventionell bis schräg gestaltet und verarbeiten sehr persönliche Erlebnisse. Olivia durchläuft im Film mehrere Phasen der Reflexion ihrer Beziehungen, immer durch einen anderen Animationsstil dargestellt, beziehungsweise sich überschneidend und ineinander verwebend, kreisförmig um ein Zentrum – am besten schaut man es sich selbst an.
Aber man muss überhaupt nicht nach Übersee schauen, um sich von kreativen Animationsfilmen begeistern zu lassen, in den letzten Jahren begeisterten Animationsfilme aus Polen, Slowenien oder anderen osteuropäischen Ländern das Publikum und bieten wirklich ein Erlebnis, das sich außerhalb des Dok nur schwer finden lässt.
In diesem Jahr ist zum Beispiel der ungarische Animationsfilm »Pelikan Blue« dabei, der nicht nur aus Osteuropa kommt, sondern thematisch auch noch die Zeit unmittelbar nach dem Fall des Eisernen Vorhangs behandelt. Drei Freunde wollen die Welt sehen und fälschen dafür Zugtickets, woraus sich bald ein lukratives Geschäft ergibt. Dieser Film steht im Grunde sinnbildlich für das Festival, denn er ist kein reiner Animationsfilm, sondern bringt zusätzlich dokumentarische Elemente ins Genre ein und verbindet so das, was für Festivaldirektor Christoph Terhechte Dok Leipzig ausmacht: Die Vernetzung der beiden Schwerpunkte des Internationalen Leipziger Festivals für Dokumentar- und Animationsfilm soll auch in den nächsten Jahren weiter vorangebracht werden, der Anteil der Filme aus beiden Richtungen dabei beibehalten werden. Apropos Anteil, dieses Jahr wurden mehr als 3.350 Arbeiten eingereicht, ein deutlicher Anstieg, was sicher die Bedeutung des Festivals für die Branche unterstreicht. Ausgewählt wurden insgesamt 209 Filme und XR-Arbeiten (Extended Reality), Letztere sind zusammengefasst im Dok-Neuland und verschieben die Grenzen des Films noch mal weiter, indem sie unter anderem mit Virtual Reality an noch größerer Immersion und den »Filmen der Zukunft« arbeiten. Das Ganze wird wieder kostenlos zu sehen sein, diesmal aber mit neuem Konzept an gleich vier Standorten: wie gewohnt im Museum der bildenden Künste, aber auch in der Cinémathèque, der Galerie KUB und am Hauptbahnhof.
Zu den beiden genannten animierten Langfilmen kommt auch wieder eine ganze Reihe an animierten Kurzfilmen aus aller Welt, die in puncto Kreativität und Experimentierfreude natürlich in keiner Weise nachstehen. Wie wichtig der Animationsfilm für das Festival mittlerweile geworden ist, zeigen die beiden zusätzlichen Programmpunkte für alle, die hinter die Kulissen der Linien und Pixel auf der Leinwand schauen wollen: zum einen die »Animation Perspecitves«, die Gelegenheit zum Austausch mit den beiden Animationskünstlerinnen Gudrun Krebitz und Moïa Jobin-Paré geben. Die beiden gewähren einen tiefen Einblick in ihre Filme über das triste Großstadtleben und in ihre unterschiedlichen Arbeitsweisen. Noch tiefer in die Welt der Animationsfilme kann man dagegen bei der Animation-Night schauen, dort sogar bis an die ursprünglichsten Anfänge der animierten Bilder, die mit einem Phenakistiskop erzeugt wurden. Das kennt der eine oder die andere vielleicht aus der Kindheit oder von der letzten Partynacht: Auf einer sich drehenden Scheibe werden einzelne Bilder in Bewegung gebracht und erzeugen die Illusion von Bewegung. Mit den ersten Computeranimationen und anderen historischen Apparaten zeigt die Animation-Night, was fernab von Filmen in einem künstlerischen Rahmen noch mit Animation möglich ist.
Trotzdem ist die Animation nur ein Teil des Festivals, auch die langen und kurzen Dokumentarfilme kommen dieses Jahr natürlich wieder aus aller Welt und warten mit ihren ganz eigenen Highlights auf. Die Hommage an drei besondere Filmschaffende steht dabei im Zentrum und ehrt Dominique Cabrera, Isabel Herguera und den im Mai verstorbenen Thomas Heise. Den Film »Bonjour Monsieur Comolli« von Dominique Cabrera beschreibt Christoph Terhechte als ein »umfassendes Porträt, in dem es um Krankheit, Tod, guten Wein und all das geht, was das Kino zur menschlichen Existenz beizutragen hat«. Darüber hinaus wird auch dieses Jahr wirklich alles abgedeckt, was in der heutigen Welt Relevanz hat: Genderrollen und Religion in »Sabbath Queen«, einer Dokumentation über einen Rabbi, der gleichzeitig auch als Drag Queen konservative Strukturen im Judentum aufbrechen will, der Umgang der Justiz mit geflüchteten Menschen in Moria in »Moria Six«, Sexualität und Zwischenmenschlichkeit in »Truth or Dare« und ganz viele Identitäten, die die Filmschaffenden über sich oder ihr Umfeld offenlegen, ob in der ersten türkischen Frauenfußballmannschaft in Berlin (»Spielerinnen«) oder beim Rap in »Sister Queens«. Nicht zuletzt geht es auch um die Fragen nach dem Wir und den Anderen, nach Ost gegen West, Reich gegen Arm in der Retrospektive »Dritte Wege in der zweigeteilten Welt – Utopien und Unterwanderungen«, in der das Festival auch die eigene Rolle in der DDR aufbereitet. In diesem umfangreichen Programm voller schwerwiegender und kreativer Filme sollten alle Filmbegeisterten wieder fündig werden.
> 67. Internationales Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilm: 28.10.–3.11., u. a. Passage-Kinos, Cinestar, Cinémathèque, Schaubühne Lindenfels, Hauptbahnhof. Das aktuelle Programm gibt es auf: www.dok-leipzig.de
> Festivalberichte, Filmbesprechungen und Interviews gibt es auf unserem Dokblog.