»Beherrscht man die Kunst des Storytellings noch genauso, wie es den alten Häsinnen und Hasen der Jazzhistorie nachgesagt wird?«, fragt das Programmheft der 48. Leipziger Jazztage, die vom 19. bis 26. Oktober unter dem Motto »Tell me …!« die halbe Stadt bespielt haben. Die Antwort lautet natürlich: Nein, keineswegs. Das Solo als Individualsport, bei dem mit möglichst eigenem Sound die ganze Lebenserfahrung in 32 Takte gepackt wird, ist eine aussterbende Kunst – und das ist schade und gut so. Tatsächlich fällt es schwer, sich an ein Solo im Festivalprogramm zu erinnern, das eher eigensinnige Selbstaussage als Klangfarbe im kompositorischen Ganzen gewesen wäre. Heldenverehrung und die Idee eines stetigen (stilistischen) Fortschritts erscheinen heute fragwürdig und die Musik ist viel inklusiver geworden, sowohl was die Musikerinnen und Musiker als auch das Material angeht. Andererseits sind alle Stile möglich, sodass die Wahl der Sprache der erste Schritt zur Erzählung ist, eine Art Worldbuilding, bei dem Klangwelten aus Elementen des früheren Jazz und anderer Musikrichtungen erbaut werden. Falls das zu abstrakt klingt, hier ein paar praktische Höhepunkte aus dem spannenden Programm dieses Jahrgangs der Leipziger Jazztage:
Fernsehtaugliches Klavierduo
Den ersten Teil des Eröffnungskonzerts im Opernhaus kann man glücklicherweise bei Arte nachhören und -sehen: Das Klavierduo von Joachim Kühn und Michael Wollny bietet Musik von ungeheurer Brillanz und Tondichte, oft mit Kühn als Strukturgeber und Wollny als flinkem Ornament, dann wieder als tänzerisches Miteinander. Die Musik ist aus einem Guss, hier ist kein spielerischer Wettbewerb zwischen Protagonisten desselben Instruments, wie er einst jazztypisch war. Wobei: Die Musik ist in großen Teilen improvisiert, aber ist sie auch Jazz? Phasenweise überlegt man, welcher impressionistische Komponist die Vorlage geliefert haben könnte, aber nein, hier wird in Echtzeit klassisch komponiert und dann wieder in atemberaubendem Tempo losimprovisiert, selbst in den rasantesten Kurven in völligem rhythmischem Einverständnis. Das ist alles sehr edel, aber auch sehr gentrifiziert.
Schönes junges Brett
Am zweiten Tag in der Nato wird es dann weniger ehrwürdig. Der Gitarrist Max Löbner bekommt erst den Leipziger Jazznachwuchspreis und spielt dann mit seiner Band KLSD auf. Zwei Gitarren, Altsaxofon und Schlagzeug – kein Bass also, und auch kein Versuch, das tiefe Fundament irgendwie zu ersetzen, stattdessen nutzt die Band die sich ergebenden Freiheiten durch besonders lockere Formen. Das Quartett fängt am abstrakten Ende seines Repertoires an, spielt eckige Intervallsprünge über angedeuteten, aber konsequent verweigerten Rhythmen mit Indierock-Prägnanz. Aber die Handbremse bleibt erstmal angezogen und man hört die gelesenen Noten heraus. Das ändert sich mit dem dritten, unverschämt eingängigen Stück, fast schon eine epische Rockballade, wäre die Band nicht immer schräg unterwegs. Ab hier steht ihnen ein weites Feld offen: von abstrakten Effektpedalnebeln bis zu No-Wave-Chaotik (und einer ADHS-Zugabe im Stil von John Zorn). Schön auch die Good-Cop/Bad-Cop-Strategie von Löbner auf der wärmeren Gibson-Gitarre, der die Fundamente vorgibt und zu nachdenklichen Soli neigt, und Fridolin Krön auf der schärferen Fender, der auch mal die Beherrschung verlieren darf. Im Folgenden hat jedes Stück mindestens ein gutes Riff, eine schlagende Akkordfolge, ein vertracktes Picking und einen scharfen Bruch, und die vier legen ein ziemlich schönes Brett hin.
Orchestrale Reise-Minimal-Music
Eine beliebte Form der Erzählung ist der Reisebericht. Am Mittwoch beginnt das Andromeda Mega Express Orchestra seinen Auftritt in der Musikalischen Komödie wie eine alte Exotica-Platte, mit Flötenklängen und Vogelgezwitscher, steigert sich dann langsam aber unaufhaltsam bis das Ende des ersten Stücks in einem wilden E-Gitarrensolo über Trommelgewitter explodiert. Wobei das Wilde hier genau geregelt ist; die Stücke sind von Bandleader Daniel Glatzel gekonnt für ein Ensemble von einem Dutzend meist doppelt besetzter Instrumente auskomponiert. Nur die Vibrafonistin links (Evi Filippou) und eben der E-Gitarrist rechts (Arne Braun) dürfen sich ab und an austoben. Melodien hört man kaum, der Fokus liegt auf fein ausgeklügelten Rhythmen, einander antwortenden Instrumentengruppen, Verschachtelungen in schrägen Taktzahlen. So wird das Material – etwa ein in Malawi erlernter Rhythmus, wie Glatzel erzählt – in eine Art orchestrale Minimal Music übersetzt, die den Gedanken der Weltmusik dahinter bändigt.
Allumfassender Embryo-Groove
Eine ganz unmittelbare Vorstellung von Weltmusik bietet dann Embryo am letzten Tag im Schauspielhaus. Hier will sich niemand in den Vordergrund drängen und so hat sich die Band als Halbkreis hinten auf der Bühne um ein leeres Zentrum aufgestellt. Die 1969 gegründete Formation hat eine lange Geschichte mit hunderten von Musikern, die von den motorischen Rhythmen und Ein-Akkord-Improvisationen des Krautrock bald in Richtung Weltmusik führte. Inzwischen wird Embryo von Marja Burchard geleitet, der Tochter des verstorbenen Gründers, und taucht erst einmal tief in diese Geschichte ein, mit flirrenden, psychedelisch anmutenden Improvisationen, aus denen sich langsam ein federnder Groove entwickelt. Die jetzige Inkarnation agiert mit großer Transparenz, meist von gemeinsamen Riffs auf Bass und Gitarre in schrägen Taktarten zusammengehalten (einen 17er-Takt habe ich notiert und dann fußwippend mit dem Zählen aufgehört – die Sitze im Schauspiel schienen immer enger zu werden), während Burchard an Vibrafon und Orgel und Johannes Schleiermacher auf dem Saxofon ihre Ausflüge unternehmen. Das Material ist auch hier aus aller Welt mitgebracht, indisch, orientalisch, vom Balkan, mitunter auf speziellen Instrumenten wie einem Cymbalon, einer Tambura oder einer Schlitztrommel vorgetragen, bis sich die folkigen Klänge wieder zum allumfassenden Groove auswachsen. Die Band agiert mit ungeheurem Charme und hätte gern auch ewig weitergespielt. »Embryo lebt!«, ruft Burchard ins Publikum. Da waren sowieso keine Zweifel aufgekommen.
Rücksichtsvolle Free-Jazz-Session
Jazz im engeren Sinn bot vorm Andromeda Mega Express Orchestra in der Muko das Harvest Time Experiment benannte Projekt in seiner Hommage an eine Pharoah-Sanders-Platte von 1976, auf der Tisziji Muñoz Gitarre spielt. Der alte Gitarrenguru (muss man so sagen) sitzt nun tatsächlich in diesem Sextett auf der Bühne und spielt seinen unverkennbaren Sound der Zeit, irgendwo zwischen Santana und Sonny Sharrock. Allzu viele Solos bekommt er aber nicht; oder vielmehr solieren mehr oder weniger alle immer gleichzeitig, hochenergetisch aber rücksichtsvoll ohne einander in den Weg zu geraten. Der Free Jazz wird hier als große Jam-Session verstanden. So ganz im Sinne Pharoahs ist das nicht, der in expressiven Passagen sein Saxofon wie kein anderer zerlegte und andererseits in kontemplativen Passagen eine unendliche Geduld entwickelte. Heute haben wir Spiritual Jazz ohne Andacht, Free Jazz ohne Protest, dafür eine ansteckende Spielfreude. Idris Rahman spielt sein Tenor aus den Knien. Bassist Joshua Abrams wechselt zum Kofferharmonium und zitiert damit das schönste Video, das auf Youtube steht: Pharoah Sanders spielt »Kazuko« in einem verlassenen Tunnel zur Begleitung dieses Instruments. Unbedingt anschauen. Die bis dahin eher abstrakte Sängerin und Spoken-Word-Artistin Dumama paraphrasiert Sanders’ Hit »The Creator has a Master Plan« mit überraschend warmer Jazzstimme mitten aus der Tradition. Vielleicht ist Protest nicht mehr nötig; zumindest auf dieser Bühne ist die Welt in Ordnung.
Alte Häsin an der Trompete
Noch jazzmäßiger (nach rein gefühltem Maßstab) wird es am Freitag im UT Connewitz mit Lina Allemanos Ohrenschmaus. Allemano agiert am ehesten wie eine alte Häsin mit breitem Ausdrucksspektrum, spielt ihre Trompete frei und offen, mit butterweichem Ton oder durch Dosen und andere Gegenstände geblasen. Die Sprache ist kontrollierter Free Jazz mit Hang zum Geräusch, in klar strukturierte Kompositionen verpackt. So navigiert das Trio durch dynamische Abstürze oder fragile Unisonopassagen, dann gehen Dan Peter Sundland am E-Bass und Michael Griener am Schlagzeug wieder eigene Wege und jeder spielt für sich allein. Sundland sieht mit grünlichem Anzug, Brille und dünnem langen Haar wie ein spitzwegscher Dorflehrer aus, knetet die Töne oder entlockt dem Bass mit dem Bogen gotische Choräle. Ein zusätzlicher Tonabnehmer verstärkt den Korpus, macht jedes absichtsvolle Kratzen hörbar, und wenn er den Kopf des Instruments zum finalen Stück über den Boden scheuert, ertönt ein wunderbar sattes Grollen. Griener liefert konstant Energie, ohne die anderen damit zu drangsalieren, von feiner Besenarbeit bis zum Klang eines Geschirrschranks die Treppe hinunter. Die Instrumentenverteilung des traditionellen Jazztrios bewirkt, dass es immer nach Einheit klingt, selbst wenn alle Beteiligten ihr eigenen Interessen verfolgen, und Ohrenschmaus testen die natürliche Kohäsion der Formation auf vergnügliche Weise aus.
Zwei Große finden zueinander
Ganz solistisch beginnt der letzte Abend im Schauspiel: Die Pianistin Sylvie Courvoisier bewegt sich in einem ähnlichen Genre wie das Duo Kühn/Wollny zu Beginn des Festivals, Klassik-nahem Konzertjazz. Aber die Musik wirkt moderner, harmonisch vielschichtiger, mit mehr Luft, schräger, inklusive Ausflügen ins Innere des Instruments, das die Töne wie eine Echokammer zurückwirft. Das erste Stück wirkt fast spätromantisch, dann intervenieren klirrende Akkorde im Diskant. Das zweite Stück beginnt beinahe atonal, mit den Handballen gespielt, dazwischen jähe Phrasenfragmente, galoppierende Rhythmen, ein plötzlicher Hauch von Keith Jarrett, abstrahierte Boogiefiguren, immer durch den romantisierenden Gestus zusammengehalten. Courvoisier hält ihren Auftritt kurz und bestimmt, zu sehr freut sie sich auf das Duett mit einem ihrer musikalischen Helden (wie sie sagt): dem mittlerweile 80-jährigen Saxofonisten Evan Parker, der etwas gebeugt aber offensichtlich ebenso vorfreudig nach der Pause die Bühne betritt.
Courvoisier eröffnet das Duo mit geisterhaften Lauten aus dem Klavierinneren (das ist nun keine Metapher, es klingt tatsächlich wie ein Geist aus einem alten Hollywoodfilm), Parker antwortet mit vorsichtigen Tönen, bis sich beide in ihre jeweilige Tonsprache hineinarbeiten. Und sich tatsächlich nicht auf Anhieb so blind verstehen, wie man es erwarten konnte. Parker ist ein Meister der Kreisatmung, der immer noch ganze Konzerte bestreiten kann, ohne einmal sein Instrument abzusetzen, und spielt endlose Tonfolgen mit leichten Variationen – abgeleitet von den Sheets of Sound, den Klangschichten von John Coltrane, so weiterentwickelt, dass sich die Linien gegenseitig zu jagen scheinen. Geradezu störrisch verharrt Parker in derselben Tonleiter, wogegen Courvoisier auf feine Akkordmodulationen setzt, und wäre es in der freien Improvisation nicht per Definition unmöglich, falsch zu spielen, dann würden es zwischen den beiden tonal mächtig knirschen. So ist es spannend mitzuerleben, wie sie einander immer besser verstehen, ohne ihre Eigenheiten aufzugeben: über rhythmische Einsprengsel mit perkussiv scheppernden Tönen des teilpräparierten Flügels, über gegenseitiges Platzmachen und größere harmonische Offenheit. Spätestens mit dem letzten Stück – bei dem Courvoisier etwas verdächtige batteriebetriebene Spielzeuge ins Innere des Flügels schickt, die auf den Saiten rumoren und alle Akkorde verwischen lassen – musizieren die beiden vollkommen harmonisch miteinander.
Unerhörte analog-digitale Zaunkönige
Am aufregendsten aber ist Musik, wenn man gar nicht genau versteht, was passiert. Weil man noch nichts dergleichen gehört hat, weil die Mischung die Zutaten nicht gleich preisgibt. So geschieht das bei den Wrens (benannt nach den kleinen Singvögelchen, die im Deutschen Zaunkönige heißen, damit unsere Erwartungen ins Leere gehen) am Montag in der Schaubühne Lindenfels. Ihr Set beginnt als Störgeräuschquartett und ufert dann sehr schnell aus – vier Köpfe und acht Instrumente, von denen sich die Hälfte unabhängig selbst zu spielen scheint, unzuordenbar, überbordend. Ryan Easter bläst die Trompete meist mit unjazzmäßig fanfarenhaftem Klang, dazwischen erzählt er aus seinem New Yorker Alltag, der offenbar aus lauter entgleisenden kleinen Momenten besteht (»staring at my feet with my eyes rolled back«) oder versucht sich in kauzigem Aufschneidertum in echter Rapmanier. Elias Stemeseder wechselt zwischen allerhand digitalen und analogen Synths für retrofuturistische Sci-Fi-Geräusche und einem Klavier, das dann ohne sein Zutun in den Kabeln weiterlebt. Lester St. Louis sorgt am Cello für warme Klänge und am Computer für schneidende Kühle, die dem analogen Pulsen seines Kollegen widerspricht. Jason Nazary sucht am Schlagzeug (und noch mehr Elektronik) den Puls im Gebrodel, und wenn er ihn gefunden hat, massiert er ihn sorgfältig heraus und plötzlich ist ein greifbares Stück Musik zum Leben erwacht. Sie spielen eine durchgehende Suite, und die Struktur entsteht, indem alle gemeinsam an der Masse arbeiten, die fortwährend morpht und mäandert. Das ist absolut »marvelous«, wie Easter dem Kritiker während einem Rap in die Feder diktiert, nicht großartig, nicht fantastisch, sondern eben wundervoll. So könnte die Zukunft des Jazz aussehen (wenn der Jazz seine Zukunft nicht wieder verschläft), absolute Jetztzeitmusik mit einem Fuß im Unbekannten.