Das Gericht will seit einigen Minuten eigentlich schon in die Mittagspause, als Staatsanwalt König plötzlich von seiner Bank im Verhandlungssaal 252 des Leipziger Amtsgerichts aufspringt. »Ich beantrage eine Unterbrechung, weil ich mir diesen Käse nicht weiter anhören will!«, ruft König in den Verhandlungssaal hinein, in den nicht mehr als eine Sitzreihe für Zuschauende passt. »Setzen Sie sich wieder hin«, sagt Richter Müller. König setzt sich. Der Staatsanwalt ist aufgebracht, Verteidiger Werner hatte es zuvor als »Skandal« bezeichnet, dass König das Protokoll der Vernehmung eines Zeugen nicht mit ihm und dem Richter geteilt hatte.
Die Auseinandersetzung ist der Höhepunkt eines Prozesses, in dem Verteidiger Werner einen neuen Schwerpunkt setzt im Vergleich zu den bereits 16 abgeschlossenen Verhandlungen im Zusammenhang mit den Ausschreitungen beim Derby zwischen Chemie und Lok Leipzig am 7. Mai 2022: Er will beweisen, dass es ein unverhältnismäßiger Polizeieinsatz war, der Fans der BSG Chemie dazu brachte, mit Gegenständen auf die Polizeikräfte zu werfen. Eine Verhandlungstaktik, an deren Ende das mildeste bisher getroffene Urteil steht.
Nicht eingehaltene Absprachen zwischen Verein und Polizei
Wir haben bereits ausführlich vom ersten Verhandlungstag im Prozess gegen den 23-Jährigen berichtet, der sich an den Ausschreitungen beteiligt hatte. Neun Beamte wurden dabei verletzt, einer von ihnen musste seinen Dienst vorzeitig abbrechen. Ende August läuft der zweite Verhandlungstag. Auf dem Zeugenstuhl sitzt der damalige Sicherheitsbeauftragte der BSG. Die Verteidigung betrachtet ihn als Entlastungszeugen, weil er von vermeintlich nicht eingehaltenen Absprachen zwischen Verein und Polizei aus der Sicherheitsberatung vor dem Spiel berichtet.
Weil sich bereits bei einem Spiel vor dem Derby Fans von Videoeinheiten der Polizei in der Nähe der Meisterelf, einer Statue am Zugang zum Norddamm, provoziert gefühlt hätten, sei die Absprache getroffen worden, diesen Bereich diesmal zu »entlasten« und dort nur in einer »Notfallsituation« Polizeikräfte einzusetzen. Als Polizeikräfte beim Derby dennoch von dort aus filmten, wie ein Fan auf dem Norddamm einen Bengalo zündete, kam es zu ersten Auseinandersetzungen zwischen Fans und Polizei.
Keine Einsicht in polizeiliche Funkprotokolle
Während der Befragung durch König wird offensichtlich: Im Zuge von Ermittlungen gegen eine andere Person hatte der Sicherheitsbeauftrage schon einmal bei der Polizei ausgesagt. Weder Verteidiger Werner noch Richter Müller liegt diese Aussage vor. Es kommt zum eingangs beschriebenen Streit, an dessen Ende König das Protokoll der Aussagen an Werner übergibt. Richter Müller beschwichtigt: Man habe die Aussage ja nun gehört und könne diese berücksichtigen. Eine Möglichkeit, die in 16 Verhandlungen zuvor nicht bestand. Acht der gesprochenen Urteile sind bereits rechtskräftig, es kann kein Einspruch mehr eingelegt werden.
Vor dem Sicherheitsbeauftragten hatte der Einheitsführer der Beweissicherungs- und Festnahmeeinheit (BFE) ausgesagt. Wie die drei am ersten Verhandlungstag vernommenen Polizeibeamten berichtete auch er von Kommunikationsproblemen zwischen den eingesetzten Polizeieinheiten. Den Antrag der Verteidigung, die polizeilichen Funkprotokolle einzusehen, lehnte Richter Müller ab. Die Aussagen der Polizisten seien mehr wert.
Verteidigung erwartet keinen »juristischen Turnaround« vom Amtsgericht
Auf Antrag von Werner laufen am letzten Prozesstag auf einem Fernseher im Gerichtssaal Aufnahmen von Polizeikameras, die aus unterschiedlichen Perspektiven den Norddamm filmten. Für Werner zeigen diese: Der Einsatz des Kamerateams an der Meisterelf sei überflüssig, nicht strafverfolgungsrelevant und somit rechtswidrig gewesen. Gleiches gelte für den Pfeffersprayeinsatz der Polizei, sagt Werner, weil dieser flächendeckend erfolgt sei und auch Unbeteiligte getroffen habe, etwa Ordner.
Ohnehin habe es sich zunächst um eine Spontanversammlung der Fans gegen den Polizeieinsatz gehandelt, die sich erst später – in Reaktion auf den Pfeffersprayeinsatz – zu einem Landfriedensbruch entwickelt habe. Weil aber der vorangegangene Polizeieinsatz unverhältnismäßig gewesen sei, sei der Widerstand der Fans nicht strafbar – das regelt Paragraf 113 des Strafgesetzbuches. Ein solcher »juristischer Turnaround« sei vom Leipziger Amtsgericht nicht zu erwarten, sagt Werner. Er plädiert schließlich auf eine Bewährungsstrafe von deutlich unter einem Jahr und eine Geldstrafe von 500 Euro.
Das mildeste Urteil bis jetzt
Staatsanwalt König und Richter Müller sehen hingegen keinen rechtswidrigen Polizeieinsatz. Für eine effektive Strafverfolgung sei das Kamerateam an der Meisterelf notwendig gewesen. Den Pfeffersprayeinsatz der Polizei wertet König als Notwehr gegen die »marodierenden Fußballfans«. Eine Spontanversammlung gegen den Polizeieinsatz sehen weder Staatsanwalt noch Richter gegeben. Müller spricht vielmehr von einer Selbsthilfeaktion der Fans, im Zuge derer schwerer Landfriedensbuch und versuchte Körperverletzung vorgelegen hätten und verurteilt den Angeklagten zu einer Bewährungsstrafe von 16 Monaten sowie einer Geldstrafe von 2.500 Euro, die er an den Verein Frauen für Frauen zahlen muss. Ein gerichtliches Stadionverbot bekommt er nicht.
Damit ist es das mildeste der bis Ende August vorausgegangenen 16 Urteile, die bisherigen Bewährungsstrafen hatten jeweils zwischen 18 und 24 Monaten gelegen. Hinzu kamen Geldstrafen und gerichtliche Stadionverbote. Müller sieht, anders als die Staatsanwaltschaft, hier keine sukzessive Mittäterschaft gegeben. Laut dieser könnten dem Angeklagten auch die Angriffe der anderen Fans auf die Polizisten angelastet werden, weil er diese durch sein Mitwirken gebilligt habe. Dem 23-Jährigen werden somit nur die Verletzungen der Polizisten angelastet, die er durch seine Würfe selbst verursacht haben kann.
Sowohl Staatsanwaltschaft als auch Verteidigung haben bereits Rechtsmittel gegen das Urteil eingelegt. Die nächste Instanz ist das Landgericht Leipzig.
MITARBEIT: MAX HOBRECHT