Im Mai dieses Jahres erhält Zulejha Ismailji einen unerwarteten Anruf – sie sei für die Goldene Ehrennadel nominiert, die die Stadt Leipzig jedes Jahr an ehrenamtlich engagierte Leipzigerinnen und Leipziger vergibt. Ismailji ist 21 Jahre alt, hat noch nicht mal ihr Studium begonnen (BWL ab diesem Herbst). Ihr Engagement beim Quartiersmanagement Grünau und dass sie die muslimische Initiative Grünau mitgegründet hat, sollen ausgezeichnet werden. Die 21-Jährige ist überrascht, hadert mit sich, ob sie die Auszeichnung annehmen soll. Andere hätten es mehr verdient, denkt sie. Schließlich nimmt sie die Ehrennadel an, stellvertretend für die Musliminnen und Muslime, Menschen mit Migrationshintergrund, die tagtäglich mit Benachteiligungen kämpfen und sich trotzdem gesellschaftlich engagieren. Für diese Leute setzt sich die junge Frau ein.
Sie sind in Nordmazedonien geboren und in Berlin aufgewachsen. Vor drei Jahren zogen Sie mit Ihrer Familie nach Grünau. Wie war es, in Leipzig anzukommen?
Es war schwer, Anschluss zu finden, vor allem, weil ich fertig mit der Schule war. Ich war auf der Suche nach einem Ausbildungsplatz zur Bauzeichnerin. Bei einem Vorstellungsgespräch kamen Kommentare wie: »Mit dem Teil auf Ihrem Kopf kommen Sie aber nicht zur Arbeit« und »Ich werde Ihnen hier aber keinen Gebetsraum einrichten.« Auch bei meinem ersten Job bin ich schnell wieder raus, weil mir etwas Unpassendes gesagt wurde – ich war die Einzige, die es gemerkt hat. Ich bin ein Mensch, der keinen Ärger verursachen möchte, und habe deshalb gekündigt.
Haben Sie schon davor Erfahrungen mit Rassismus und Muslimfeindlichkeit gemacht?
Ja, ich bin in Berlin aufs Gymnasium gegangen, habe aber nur die elfte Klasse abgeschlossen. Ich hatte Probleme mit meinem Erdkundelehrer, der auch mein Leistungskurs- und Vertrauenslehrer war. Er hat mir schlechtere Noten gegeben oder mich ignoriert. Das war nur bei mir so, der Einzigen in der Klasse mit Kopftuch. In Erdkunde stand ich eigentlich immer auf Eins oder Zwei, und auf einmal bin ich auf eine Vier gerutscht. Das hat mich mental sehr mitgenommen, so dass sich meine anderen Noten auch verschlechtert haben. Aber es war nichts, das man hätte nachweisen können, ich müsste also entweder wiederholen oder die Schule wechseln. Eine Lehrerin riet mir, eine Ausbildung zu machen und dann das Fachabi. Dann bin ich abgegangen und wir sind hierhergezogen.
Hier haben Sie sich für einen Bundesfreiwilligendienst beim Quartiersmanagement Grünau entschieden.
Das war ein Riesenzufall, dass ich da hingekommen bin. Meine Schwester besitzt einen Imbiss, und in der Nähe ist das Quartiersmanagement. Maria Habre, die dort arbeitet und Architektin ist, kam immer mal wieder bei uns vorbei. Ursprünglich wollte ich auch Architektur studieren, und so kamen wir ins Gespräch. Ich habe gesagt, dass ich einen Ausbildungsplatz brauche oder einen Freiwilligendienst, und sie meinte: »Mach es doch bei uns!«
Während Ihres Freiwilligendienstes haben Sie die muslimische Initiative Grünau mitgegründet. Wie kam es dazu?
Jeannine Nowak von der Koordinierungsstelle Migration und Integration Grünau hatte ein Treffen zum Iftār geplant – das jährliche muslimische Fest des Fastenbrechens. Sie hat mich gebeten, sie zu unterstützen, was ich liebend gerne gemacht habe. In Berlin bin ich immer mit Freunden zu solchen Veranstaltungen von der Moschee gegangen, das hat mir hier gefehlt und ich weiß, dass es vielen auch so ging.
Wie lief dieses Iftār-Treffen?
Das erste Mal war sehr chaotisch (lacht). Aber am Ende war die Hauptsache, dass sich alle versammelt, zusammen gegessen und getrunken haben, dass es endlich einen Raum gab, wo man über die ganzen Sachen sprechen konnte. Eine ältere Dame, die aus Syrien geflüchtet ist, kam weinend zu mir. Sie hat sich bedankt, weil sie ein Stück Zuhause wiederbekommen hat. Sie hat Leute getroffen, die sie verstanden haben, und sie konnte ihre Religion ausleben, ohne sich erklären zu müssen. Das war so ein Punkt, an dem Jeannine und ich uns gefragt haben: Wollen wir nicht noch etwas veranstalten? Wir haben das Opferfest gefeiert und wieder den Iftār. Es kamen immer mehr Leute und es hat sich eine kleine Initiative gegründet.
Gab es danach regelmäßige Treffen?
Daran wird gearbeitet. Am Anfang ging es erst mal darum, sich zu zeigen. Als ich in Grünau angekommen bin, war ich überrascht, dass das so gespalten ist. In Berlin war das anders. Ich habe im Wedding an der Grenze zu Pankow gelebt und da haben sich, ich sag jetzt mal: »Deutsche«, und Migranten gut verstanden. In Grünau haben die Leute teilweise wirklich Angst vor Migranten. Es gibt vor allem zwischen älteren Deutschen und Migranten keine Verbindung. Natürlich entsteht dann Angst. Wenn ich im Fernseher nur sehe und höre: Terrorismus hier, Islamismus da, hätte ich auch Angst. Ich glaube, viele verstehen nicht, dass die meisten dieser Menschen vor Problemen geflohen sind und nicht herkommen, um weitere Probleme zu machen. Die Initiative möchte also zeigen, dass wir auch nur hier sind, um friedlich zu leben.
Es sind also auch Menschen ohne muslimischen Glauben willkommen?
Ja, es geht darum, einen Gemeinschaftsraum mit Leuten, die den Islam nicht kennen, zu schaffen. Beim zweiten Iftār-Treffen kamen etwa 20 Personen, was für uns sehr viel war. Eine Frau von den Omas gegen Rechts wirkte sehr interessiert. Es war auch schön zu sehen, dass die Leute beim Essen darauf geachtet haben, kein Schweinefleisch mitzubringen. Ich glaube, an diesem Tag sind einige Vorurteile verschwunden.
Sie sind mittlerweile kein Mitglied der Initiative mehr, sondern gründen gerade eine eigene namens Muslima. Warum?
Ich habe gemerkt, dass immer mehr männliche Personen dazukamen, vor allem ältere, und junge Frauen sich … nicht mehr so wohl gefühlt haben, dabei zu sein. Es ist ein häufiger kultureller und religiöser Wert, dass man aus Respekt Älteren nicht widerspricht. Ich habe Freundinnen, die sich nicht wohl damit fühlen. Da hat es gut gepasst, dass Yasemin Said vom postmigrantischen Verein Perspectives mir vorgeschlagen hat, ein eigenes Projekt für muslimische Frauen im Alter von 16 bis 24 zu starten. Ich habe lange überlegt und schließlich zugesagt. Ich hoffe aber sehr, dass die muslimische Initiative weiter wächst. Die Leute dort sind wirklich engagiert. Wenn ich mir anschaue, was sie durchmachen – teilweise fast ohne Deutschkenntnisse – ziehe ich meinen Hut. Und nur, weil es zwei Gruppen gibt, heißt es nicht, dass Leute nicht an beiden Sachen teilnehmen können. Für mich ergibt es mehr Sinn, vor allem jüngeren Frauen erst mal einen Safe Space zu geben, wo sie in Ruhe unter sich sein und sich öffnen können. Man kann sie später immer noch weiterleiten.
Warum gerade für diese Zielgruppe?
Viele junge Frauen haben hier keinen Anschluss und auch in der Familie niemanden zum Reden. Sie sollen sagen können, wie sie sich fühlen, und erzählen können: »Mir ist das und das auf der Arbeit passiert und es hat niemand bemerkt – bin ich jetzt die Dumme?« Um dann zu hören: »Nein, du bist nicht die Dumme, das war respektlos und es ist okay, was dagegen zu sagen.« Nur weil die Mehrheit etwas okay findet, heißt das nicht, dass es richtig ist. Solche Situationen passieren vielen Muslimen, vor allem Frauen. Ich finde, Moslem in Deutschland zu sein, ist schon schwer, aber eine muslimische Frau zu sein, ist noch schwerer. Es gibt dieses Vorurteil von Unterdrückung, worüber man Witze macht. Wenn ich Witze darüber mache, dann, weil ich das kompensieren möchte. Aber wenn jemand anderes Witze macht, dann lacht die Person mich und meine Religion aus.
Brauchen Sie einen solchen Raum auch selbst?
Mein Nachhilfeunterricht in der dritten und vierten Klasse war für mich immer so ein Safe Place, weil ich ehrlich sagen muss, dass nie jemand an mich geglaubt hat. Meine Familie hat immer gesagt: »Üb nicht den Islam aus, das wird dir nur Schwierigkeiten bringen.« Ich mache es aber für mich und nicht für jemand anderes. Wenn ich es deswegen schwerer habe, dann nehme ich das in Kauf. Und sie haben gesagt: »Geh nicht aufs Gymnasium, das schaffst du eh nicht.« Am Ende habe ich es aber doch geschafft. Bei der Nachhilfe waren Leute, die mich ermutigt haben – und wenn wir zusammen Aufgaben gemacht haben, habe ich es sofort verstanden. Irgendwann habe ich das auch allein zu Hause geschafft. Ich bin trotzdem weiter da hingegangen, weil das immer guttat, Leute zu haben, mit denen man reden konnte. Deshalb habe ich später selbst Nachhilfe gegeben. Ich glaube, die Tatsache, dass diese Kinder mit jemandem sprechen konnten, der Ähnliches durchgemacht hat, hat viel mit denen gemacht. Ich muss hier auch ein Riesenlob ans Quartiersmanagement aussprechen: Das sind unglaubliche Menschen, die mich motiviert und mir noch mal gezeigt haben, dass auch wenn ich nur eine Person bin, ich viel verändern kann.
Wie stellen Sie sich die Treffen Ihrer Muslima-Initiative konkret vor?
Es geht in erster Linie darum, dass die Leute sich wohlfühlen und etwas machen, das vom Alltag ablenkt: boxen, Fahrrad fahren, schwimmen oder picknicken. Wenn ich mit meinen Freunden rausgehe, dann setzen wir uns nicht hin und reden über unsere Probleme, sondern wir essen etwas oder gehen ins Kino. Dann kommen vielleicht auch ernste Themen auf, und man redet und redet und lässt den ganzen Frust raus. Aber nebenbei macht man etwas richtig Schönes. Danach fühlt man sich viel leichter.
Wofür engagieren Sie sich ganz generell, Frau Ismailji?
Im Endeffekt geht es mir immer darum, ein friedliches Bild von Muslimen aufzuzeigen. Es gibt so viel Schlechtes, das über den Islam berichtet wird. Vielleicht sind wir irgendwo anders, aber wir möchten hier auch nur in Frieden leben. Ich habe akzeptiert, dass ich anders bin, würde aber sagen, dass ich mich gut integriert habe. Ich bin in Nordmazedonien geboren, aber meine Familie ist albanisch. Wenn man mich fragt, ob ich Albanerin bin oder Deutsche, sage ich immer: Deutsche. Mein Herz ist jetzt hier und hier ist meine Heimat, auch wenn das vielen vielleicht nicht passt. Aber ich möchte mich in meiner Heimat wohlfühlen, genauso wie diese Leute. Wenn zumindest eine Person von den Initiativen liest, dann ändert sich ihr Bild vom Islam vielleicht ein bisschen zum Positiven, und das ist ein Schritt vorwärts. Das mag naiv sein, aber ich habe diese Hoffnung. Vor allem jetzt, da die rechte Szene immer stärker wird.
Fühlen Sie sich wohl in Grünau?
Ja. Definitiv wohler als am Anfang. Da war ich in einer kompletten Isolation. Die Einzigen, die ich kannte, waren meine Eltern, meine Schwester, mein Schwager und seine Familie und Freunde. Ich habe bestimmt ein Jahr gebraucht, um mich einzufinden. Viele kennen mich heute durch meinen Freiwilligendienst und die Initiative. Wenn ich rausgehe, gibt es mindestens zehn Personen, die mich begrüßen, mich umarmen und mich fragen, wie es mir geht. Das ist so ein schönes Gefühl.
> Für die Initiative Muslima sind in der Zukunft mindestens zwei Treffen im Monat geplant – eins im Büro von Perspectives, eins in wechselnden Räumen.