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Stadtleben

»Wir müssen alle ansprechen, aber können nicht alle mitnehmen«

Podiumsdiskussion: wie kann Leipzig menschengerechter werden?

  »Wir müssen alle ansprechen, aber können nicht alle mitnehmen« | Podiumsdiskussion: wie kann Leipzig menschengerechter werden?  Foto: So könnte der Goerdelerring aussehen/Simon Steffen

Katja Diehl ist auf der Bühne ihre Ungeduld deutlich anzumerken. Seit 2017 kämpft die Mobilitätsaktivistin unter anderem in Talkshows und mit ihren Büchern »Autokorrektur« und »Raus aus der Autokratie. Rein in die Mobilität von morgen« für die Mobilitätswende. Dass sich politisch noch immer kaum etwas bewegt und noch immer das Auto maßgeblich unsere Mobilität bestimmt, könne sie ebenso wenig verstehen wie Verfechterinnen und Verfechter des Status quo.

»Auto-Diktat begreifen« übertitelt die Veranstaltung, die den Vortragssaal der Universitätsbibliothek Albertina am Montagabend bis zum Rand gefüllt hat. Eigentlich sollte es »Auto-Diktatur« heißen, verrät  Karsten Haustein, Meteorologe und Klimaforscher an der Universität Leipzig. Das sei den Förderern aber zu radikal gewesen. Dabei sei keine Beschreibung treffender für unsere »motonormative« Gesellschaft, die autozentrierte Städte baut und das Auto als Standardverkehrsmittel hinnimmt. Dass das nicht selbstverständlich ist, zeigt der Blick über die Ländergrenze. Rosalie Kreuijer, Vorsitzende des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs (ADFC) Leipzig, erzählt von ihrer Heimat Niederlanden: »Dort ist es normal, Rad zu fahren. Erst in Deutschland bin ich Radaktivistin geworden«. Am heutigen Abend sind sich alle Beteiligten einig, dass alles für Rad-, Fuß- und ÖPNV-zentrierten Verkehr spricht: Mehr Verkehrssicherheit, weniger Unfälle – in Leipzig gibt es pro Jahr bis zu fünfzehn Tote und tausende Verletzte – bessere Luftqualität und damit Gesundheit für Mensch und Klima, mehr Begegnung, statt wortwörtlich »aneinander vorbeizufahren«, sind ihre Argumenten.

 

Vision statt Verzicht

Diese Begründungen in Gesellschaft und Politik wirkungsvoll zu kommunizieren, ist eine Kernfrage von Aktivistinnen und Wissenschaftlerinnen, die Haustein in seinem neu veröffentlichten Kommunikationsleitfaden »Gutes Klima (Gerechtigkeit und urbane Transformation Leipzigs in Zeiten galoppierenden Klimawandels)« verhandelt. Braucht es mehr Härte oder Empathie? Die Antwort des Panels: Bestimmtheit und »wohldosierte« Empathie gegenüber Autofans und  ausgeweitetes Mitgefühl für die, die im Verkehrsdiskurs und im Verkehr selbst untergehen. Während sich die Politik meistens um die Wünsche von Autofahrenden nach hohem Tempo und Parkhäusern bemühe, werden die Menschen, die gerne Rad fahren wollten, gar nicht erst gefragt, stellt Haustein fest. Dabei können sich viele kein Auto leisten oder kein Auto fahren – und sind damit direkt benachteiligt. Mobilität erscheint auf einmal wie ein Brennglas für gesellschaftliche Krisen, in dem sich Machtgefälle und Ungerechtigkeiten verdichten: Behindertenfeindlichkeit, Sexismus, Rassismus, Altersdiskriminierung. Katja Diehl erwähnt Menschen mit Behinderung, die nicht nur im ÖPNV oft vergessen werden und Kinder, die nur in Begleitung Erwachsener am Verkehr teilnehmen können: Personen ohne selbstbestimmte Mobilität. Sie erzählt auch von ihrer eigenen Mutter, die im ländlichen Raum lebt und wegen der körperlichen Verfassung darauf angewiesen ist, dass Diehl sie mit dem Auto fährt. Auf die Frage, ob gute Kommunikation mehr Geschichten oder Emotionen braucht, gibt sie damit eine performative Antwort: Beides.

Nicht nur über marginalisierte Gruppen zu sprechen, sondern ihnen zuzuhören, lautet ihr Appellund, weniger Privilegierte im eigenen Handeln mitzudenken. Ein Moment der Empathie schimmert durch für die, die das mit dem Verlust von eigenen Privilegien verbinden. »Die Menschen, die auf dem Status quo beharren, sind voller Angst«, sagt die Autorin. Das Problem: Nicht alle seien bereit dafür, diese Ängste zuzugeben und zu bearbeiten. Dabei gebe es für alle viel zu gewinnen. »Ich glaube, es kann nur besser werden«, meint die Autorin. »Ein Lindner sieht vielleicht nur Verlust.« Haustein fasst zusammen: »Wir müssen alle ansprechen, aber können nicht alle mitnehmen.« In erster Linie gilt es, die progressiven Kräfte zu bündeln. Das Panel zeigt einen Versuch. Worin sich die Expertinnen und Experten einig werden, ist die Wichtigkeit positiver Kommunikation. Stichwort Vision statt Verzicht. Mit Kindersicherheit, Gesundheit und Begegnungen zu argumentieren, sei die »beste Waffe«, findet ADFC-Vorsitzende Kreuijer.

 

Leipzig gegen das Auto-Diktat

Die Rede vom »Diktat des Autos« ist in Leipzig nicht neu. Schon 2023 hat Oberbürgermeister Burkhard Jung eine Befreiung davon bis 2030 angekündigt. Konkret wird das Anliegen, Leipzig »menschengerechter« zu machen, in der aktuellen Debatte um den Umbau der Prager Straße in Stötteritz. 2025 möchte die Stadt die Gleise für künftig breitere Straßenbahnen erweitern, eine Autospur durch einen Radfahrstreifen ersetzen und den derzeitigen Geh- und Radweg als Fußgängerweg lassen. Eigentlich. Der neue Stadtrat könnte mit einer konservativen Mehrheit das Vorhaben nochmal neu verhandeln, was für Haustein und Mitstreitende ein erheblicher Rückschritt wäre. Sie werden sich mit Politikerinnen und Politikern zusammensetzen und bis zur nächsten Stadtratssitzung weiterkämpfen. Philipp Gleiche, Abteilungsleiter im Mobilitäts- und Tiefbauamt, zeigt sich optimistisch: »Wir sind in einer positiven Epoche, eigentlich, mit viel Veränderungspotenzial«. Verhaltene Lacher aus dem Publikum. Auf die Publikumsfrage, wie die Zivilgesellschaft denn aktiv werden könne, gibt er den nüchternen Appell: »Stellen Sie im Zweifel Einwohneranfragen«.

 

> Den Leitfaden von Karsten Haustein gibt es hier


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1 Kommentar(e)

Matze 23.11.2024 | um 15:31 Uhr

Die Umstellung auf mehr ÖPNV und Radwege konnte man in Ländern wie Niederlande oder Dänemark machen. Ein Land wie Deutschland, dessen Wohlstand und Sozialsystem durch ein starkes industrielles Rückgrad vor allem von der Autoindustrie getragen wird, ist dafür in dem Ausmaß nicht geeignet. Viele Linke, Grüne und Sozialdemokraten werden sich noch verwundert anschauen, wenn immer mehr gut bezahlte Industriearbeitsplätze verschwinden, der Staat weniger einnehmen wird und weniger zu verteilen hat.