Wo erreicht man junge Menschen am ehesten? Richtig, in den sozialen Medien. Das hat die Leipzigerin Susanne Siegert zum Anlass genommen, um dort auf ihrem Kanal »keine.erinnerungskultur« über die NS-Zeit aufzuklären – und erreicht damit schon mal 7 Millionen Menschen in einer Woche. Im kreuzer-Gespräch erzählt sie vom Spagat zwischen schnellen Plattformen und respektvoller Erinnerungskultur.
Warum heißt Ihr Kanal »keine.Erinnerungskultur«?
Ich habe mal in einem Podcast gehört, dass man sich nur an etwas erinnern kann, das man persönlich erlebt hat. Das trifft auf uns und NS-Verbrechen in der Regel heute nicht mehr zu. Und ich finde auch den Gedanken wichtig, dass man neue Begriffe verwendet, denn wir kommen zu einer Zeitenwende. Es gibt bald keine Überlebenden mehr und wir sollten andere Begriffe verwenden für die Auseinandersetzung mit der NS-Zeit. Zum Beispiel Gedenkarbeit, einfach weil es ein bisschen aktiver ist und ein bisschen mehr zeigt, dass wir aktiv werden müssen.
Woher kommt Ihr Interesse am Nationalsozialismus?
Im März 2020, nach einem Besuch mit meinen Eltern im KZ-Außenlager Mühldorfer Hart, habe ich angefangen, zu diesem Ort zu recherchieren. Dabei war ich ziemlich schockiert, aber auch überrascht, wie viel man über diesen Ort rausfinden kann. Zum Beispiel in Form von Originaldokumenten oder Archivmaterial. Ich wollte das dann ganz gern teilen, auch wegen meines journalistischen Backgrounds, und habe dann einfach auf Instagram angefangen, darüber zu reden. Erst mal aber nur in Form von Fotos.
Wie kamen Sie dann auf die Idee, mit Tiktok-Videos über die NS-Zeit aufzuklären?
2022 habe ich einfach mal so aus Interesse ein Video auf Tiktok hochgeladen. Ich wollte mal gucken, was passiert, und es hat dann einfach gleich sehr gut funktioniert.
Sie haben Journalismus studiert, Geschichte aber nicht.
Ja, aber ich glaube, das führt dazu, dass ich sehr genau recherchiere und mir auch sehr sicher sein muss mit meinen Quellen, bevor ich eine Information veröffentliche. Weil ich mich nicht angreifbar machen möchte. Es gibt ja wirklich auch Videos von anderen Kanälen, die einfach einen Wikipedia-Eintrag vorlesen. Davon möchte ich mich abgrenzen und ich habe auch schon gutes Feedback von Historiker:innen bekommen.
Was sind Ihre Quellen?
Es gibt superviele Archive mit Nazi-Dokumenten und Dokumenten zum Nationalsozialismus – und die sind zum Großteil auch gut digitalisiert. Ich bin immer noch oft überrascht, was man da alles finden kann, frei zugänglich, digitalisiert und kostenlos.
Verdienen Sie mit den sozialen Medien auch Geld?
Ich arbeite in einer Marketingagentur hier in Leipzig. Der Kanal ist mein Ehrenamt, mein Projekt. Das mache ich nebenbei. Gott sei Dank muss ich kein Geld damit verdienen, das macht mich unabhängig.
Ihre Videos sind Tiktok entsprechend 60 bis 90 Sekunden lang. War es schon schwierig, ein Thema in dieser Zeit aufzuarbeiten?
Bis jetzt eigentlich nicht. Ich suche mir meine Themen auch danach aus und suche nach vermeintlich kleinen Themen, wo man nicht viel Vorwissen braucht. Es kann jeder auch ohne Vorkenntnisse verstehen, wie es war, die Menstruation in Auschwitz zu bekommen, oder wie es die Häftlinge gequält hat, wenn sie Holzschuhe tragen mussten bei der schweren Zwangsarbeit, die nicht richtig gepasst haben, oder dass Hunde von den NS-Männern auf Kommando Häftlinge zerfleischt haben. Das sind Dinge, die kann man irgendwie auch verstehen, ohne dass man den gesamten Kriegsverlauf kennt. Und wenn ich dann merke, im Laufe der Recherche, dass das Thema zu groß ist, dann mache ich halt zwei Videos.
Passen Sie Ihre Videos aktiv an den Algorithmus an?
Bestimmt, ich mache die Videos ja, um gesehen zu werden. Deswegen schaue ich schon, wie das Skript ist, und das betrifft, glaube ich, vor allem den ersten Satz des Videos: den Satz, durch den die Menschen am Video hängen bleiben sollen. Aber zum Beispiel lassen ja viele andere Kanäle Wörter wie Genozid, Holocaust, Auschwitz, vergasen und Hitler aus oder schreiben sie in Sonderzeichen, um nicht von der Plattform limitiert zu werden. Das mache ich nicht und ich habe auch nicht das Gefühl, dass ich dadurch eingeschränkt werde.
Sie haben mal gesagt, dass Sie sich eine kleinteiligere Erinnerungskultur wünschen. Was bedeutet das für Sie in Leipzig?
Wenn ich jetzt in Leipzig zur Schule gehen würde, wünschte ich mir, dass wir nicht nach Buchenwald fahren, sondern in die Gedenkstätte für Zwangsarbeit in der Permoserstraße. Ich bin mir sicher, die Gedenkstätte hat auch eine Art Rechercheauftrag, bei dem die Schüler:innen helfen könnten. Insgesamt wünsche ich mir, dass sich mehr mit der Geschichte vor Ort beschäftigt wird. Es kann eine enorme Kraft haben, ein Dokument zu bearbeiten mit der eigenen Stadt als Ortsmarke – unterzeichnet mit »Heil Hitler«. Aber eben eins mit der Ortsmarke Leipzig. Das Ziel sollte sein, bei Nazi-Verbrechen nicht »nur« an Auschwitz und Buchenwald zu denken. Sondern auch zum Beispiel an Zwangsarbeiter bei den Leipziger Verkehrsbetrieben. Oder an die Kleinmesse an der Jahnallee, wo ein Kriegsgefangenenlager und Baracken für Zwangsarbeiter:innen errichtet wurden.
> keine.Erinnerungskultur auf Instagram
> keine.Erinnerungskultur auf tiktok.