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Kultur

Ein Leben voller Abhängigkeiten

In seinem Debütroman erzählt der Leipziger Clemens Böckmann das Leben einer Sexarbeiterin in der DDR

  Ein Leben voller Abhängigkeiten | In seinem Debütroman erzählt der Leipziger Clemens Böckmann das Leben einer Sexarbeiterin in der DDR  Foto: Der Leipziger Autor Clemens Böckmann/Christiane Gundlach

Vom Ministerium für Staatssicherheit angeworben und zur Spionage als Sexarbeiterin verpflichtet – so liest sich die heruntergebrochene Biografie von Uta Krahl, Protagonistin von Clemens Böckmanns Debütroman »Was du kriegen kannst«.

Anfang der 70er Jahre arbeitet Uta als Möbelverkäuferin in ihrem Heimatort Zwickau. Nach der Arbeit trifft sie Männer in einer Bar, die ihr zu Beginn vor allem kostspielige Geschenke machen. 1971 wird die Stasi auf Uta aufmerksam – und wirbt sie an. Sie soll auf den internationalen Leipziger Messen Geschäftsleute und wichtige Akteure aus dem Westen ausspionieren. Als inoffizielle Mitarbeiterin gibt Uta sich den Namen Anna – und wird damit Opfer und Täterin zugleich. Denn Sexarbeit ist in der DDR offiziell verboten, ein Umstand, von dem sowohl Uta als auch die Stasi wissen.

Durch eine Freundin wird Clemens Böckmann auf das Thema aufmerksam und arbeitet von 2018 bis 2021 an der ersten Fassung seines Romans, findet lange keinen Verlag, aber schließlich Hanser.
In seinem Buch verwebt er Stasi-Akten über den »IM Anna«, erzählende Passagen und Utas Erinnerungen. Dabei ist es Böckmann wichtig zu betonen: »Das sind Figuren, die da in meinem Roman auftauchen und keine realen Personen.« Bei der Lektüre kann man das schnell vergessen, verschwimmen doch nicht nur die Grenzen zwischen Stasi-Akte, Erzählung und Stammtisch-Anekdote, sondern auch die zwischen Autofiktionalität und Realität. Vielleicht ein Grund, warum Böckmann sagt: »Mittlerweile habe ich ein anderes Verhältnis zu autofiktionalem Schreiben. Da gibt es Sachen, die mich heute anders interessieren würden. Deshalb könnte ich genau das Buch nicht noch mal in der Art und Weise schreiben.«

Häufig machen die Passagen des Ich-­Erzählers auf Ungereimtheiten zwischen Utas Darstellungen und den Informationen der Stasi-Akten aufmerksam. Immer deutlicher zeichnet sich die Frage ab, ob Uta Opfer, Täterin oder beides ist. Durch Böckmanns Schilderungen in schlichter, unaufgeregter Sprache wird die Frage nach der Wahrheit nur noch lauter, ohne je direkt im Raum zu stehen.

Wer sich hier nun skandalöse Geschichten aus dem Leben einer Sexarbeiterin erhofft, wird enttäuscht. Ohne Wertung oder detaillierte Beschreibungen ihrer Arbeit wird deutlich, was Utas Beruf auch ist: eine Dienstleistung wie viele andere, allerdings eine, mit der sie sich strafbar macht. Demnach gibt es für Uta keinen Weg aus der Zusammenarbeit mit der Stasi, bei der man zu viel gegen sie in der Hand hat. Nach und nach wird Utas Leben mit dem Alkohol durch eine weitere Abhängigkeit geprägt – ein Umstand, der die Suche nach einer Wahrheit nur noch komplizierter macht. Seite für Seite werden Utas Erinnerungen trüber, immer mehr Lücken entstehen, die auch nicht mehr durch Akten gefüllt werden können.

Die Auszüge aus Stasi-Akten sind ein Element, das die DDR und ihre Lebensbedingungen nahbarer macht, greifbarer in ihren Mechanismen. Unzählige Male tauchen im Roman die Wörter »schwarzer Balken« auf und zeigen, wie viele verschiedene Personen in Stasi-Akten namentlich genannt wurden. So verstecken sich hinter diesen Worten – oder den schwarzen Stellen in den originalen Akten – Namen, die zum Schutz der Persönlichkeitsrechte nachträglich unkenntlich gemacht wurden.

Utas Biografie bleibt bis zum Ende undurchsichtig – beschrieben aus Sicht eines Autors, der nach der Wende geboren wurde. »Was du kriegen kannst« kommt vielleicht gerade durch den Blickwinkel des Autors ohne die klischeehafte Beschönigung oder Verunglimpfung der DDR aus. Die Fakten stehen dabei für sich und treten gleichzeitig in Wechselwirkung mit Utas Aussagen: »Sie hat eine ganz große Autonomie entwickelt. Sie darf widerspenstig sein. Sie ist Subjekt, Objekt und Individuum gleichzeitig. Sie kann in dem Roman agieren, sie kann dem aber auch widersprechen. Und deswegen war es dann schon von Beginn an wichtig, dass sie diese Autonomie, ihre eigene Stimme behält und dementsprechend auch Widerworte geben kann«, so Böckmann. Es ist die Lebensgeschichte einer Sexarbeiterin, die von der Stasi ausgenutzt wurde, aber auch von dieser profitiert hat, was die Schuldfrage aus einer bisher seltenen Perspektive betrachtet. Ein behutsam montierter Roman, in dem Clemens Böckmann mit erschütternd genauem Blick den Zerfall einer Frau und eines Systems nachvollzieht.


> Clemens Böckmann: Was du kriegen kannst. München: Hanser 2024. 416 S., 24 €


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