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18. Dezember: Zehn Euro unter Mindestlohn

Die Stadt soll die Inklusion von Menschen mit Behinderung auf dem ersten Arbeitsmarkt fördern

  18. Dezember: Zehn Euro unter Mindestlohn | Die Stadt soll die Inklusion von Menschen mit Behinderung auf dem ersten Arbeitsmarkt fördern  Foto: Stefan Ibrahim

»Ich will nicht Werkstatt gehen, aber ich muss Geld verdienen.« Mit der Sprachnachricht einer ehemaligen Inklusionsschülerin mit Down-Syndrom wählt Marsha Richarz (Grüne) einen persönlichen Einstieg für ihren Antrag mit der SPD: Die Stadt Leipzig solle Menschen mit Behinderung mehr Chancen auf den allgemeinen Arbeitsmarkt ermöglichen. Derzeit arbeite die Schülerin in einer Schwimmbadkantine. In eine Werkstatt für Menschen mit Behinderung (WfbM) wolle sie auf keinen Fall: Die Arbeit dort stumpfe ab und sie bekomme einen sehr geringen Lohn. Das ist häufig die Realität für Menschen mit Behinderung. Rund 300.000 von ihnen sind in Deutschland derzeit in WfbM beschäftigt.

Verdienen kann man dort gerade einmal 1,46 Euro pro Stunde. Da es sich nur um ein arbeitnehmerähnliches Rechtsverhältnis handelt, besteht auch kein Anspruch auf den Mindestlohn. Das Monatsgehalt von rund 200 Euro bei einer Vollzeitstelle treibe die Menschen also selbst mit Zuzahlungen unter die Armutsgrenze, so Richarz.

Kritik an den WfbM ist nichts Neues. 2022 ging der Hashtag »IhrBeutetUnsAus« auf Twitter viral, unter dem Betroffene nicht nur die schlechte Bezahlung der WfbM kritisierten, sondern auch ihre Tendenz, Menschen aus der Gesellschaft auszuschließen, anstatt sie zu inkludieren. Seitdem hat sich nicht viel geändert: Derzeit gelingt der Wechsel auf den regulären Arbeitsmarkt deutschlandweit jährlich weniger als einem Prozent der Beschäftigten, in Sachsen im Durchschnitt nur 15 Personen pro Jahr. Dabei ist die Vermittlung auf den ersten Arbeitsmarkt gesetzlicher Auftrag der Werkstätten.

Wirtschaftliches Denken sei hier ein Hindernis. Großen Firmen würden sparen, wenn sie Werkstätten für eine billige Produktion nutzen, zum Beispiel für den Bau von Kleinteilen für Autos. »Leider sparen sie dabei auch an ihrer Menschlichkeit«, verurteilt Richarz scharf. Werkstätten sollten eigentlich Sprungbretter für den regulären Arbeitsmarkt sein, diese Perspektive sei aber vielen Beschäftigten unbekannt. Daher fordern SPD und Grüne in ihrem Antrag gezielte Aufklärung in Werkstätten und beruflichen Beratungen an Schulen über Praktika und Ausbildungen statt »Werkstatt eins, zwei oder drei« als einziges Angebot. Auch an sogenannten Außenarbeitsplätzen in Unternehmen sollen Personen gezielt angesprochen werden. Obwohl dort Beschäftigte schon in die Arbeitsabläufe der Unternehmen des allgemeinen Arbeitsmarktes eingebunden sind, sollen sie bestenfalls temporärer Übergang zu einem sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplatz sein. Zudem solle die Stadt Leipzig als Arbeitsgeberin ein Vorbild sein und mehr Inklusion in den eigenen Betrieben gewährleisten, etwa durch die Einrichtung neuer Inklusionsabteilungen.

»Lasst uns heute ein Signal setzen für eine Stadt, die nicht nur Inklusion fordert, sondern lebt«, schließt Richarz. »Es geht um mehr als Zahlen und Strukturen, es geht um Menschen, die ein selbstbestimmtes Leben führen wollen«. Lauter Applaus.

Sören Pellmann (Linke) stimmt dem Antrag zwar zu, kritisiert aber »von der Seitenlinie« die Bundespolitik scharf. Deren Aufgabe sei es, Maßnahmen zu ergreifen, um die Anforderungen der UN-Behindertenrechtskonvention zu erfüllen, die seit 2009 in Deutschland gilt. Artikel 27 garantiert Menschen mit Behinderung das gleiche Recht auf eine frei gewählte und gleichberechtigte Arbeit. »Hat er nicht umgesetzt, der Scholz!«, kommentiert ein Abgeordneter.

Vor der Abstimmung schreitet Andreas Geisler (SPD) raschen Schrittes zum Pult. Eindringlich appelliert er an den Stadtrat, den Verwaltungsstandpunkt abzulehnen, der nur einer von fünf Forderungen, der gezielten Ansprache von Personen in Außenarbeitsplätzen, zustimmt. Sein Wunsch geht in Erfüllung: Der ursprüngliche Antrag wird mit großer Mehrheit akzeptiert. Auch Befürworter des Verwaltungsstandpunktes aus CDU und AFD enthalten sich. 


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