Kulturhauptstadt Europas im Jahr 2025 ist »C the unseen«, das ungesehene Chemnitz, das nun dazu einlädt, das Ungesehene zu sehen. Dafür hat die Stadt sich vor fünf Jahren im innerdeutschen Wettbewerb gegen Hannover, Hildesheim, Magdeburg und Nürnberg durchgesetzt. Seit 1985 wird der Titel – bis 1999 als Kulturstadt Europas – von der EU vergeben, zuerst an Athen, später zum Beispiel an West-Berlin (1988) oder Weimar (1999) – alle ohne Konkurrenzwettbewerbe.
West-Berlins Motto lautete damals »In der Mitte Europas« und erschloss neue Kunstorte für die Stadt: So fand erstmals eine Modeperformance im Hamburger Bahnhof statt und konnte das Hebbel-Theater in der Stresemannstraße – damals im Nirgendwo in Mauernähe – saniert werden, das heute als eine Spielstätte des Hebbel am Ufer (HAU) bestens bekannt ist. Die erste Ausgabe des Festivals »Tanz im August« fand 1988 im Rahmen des Kulturstadt-Auftritts statt, den trotz der ausgewiesen schwierigen politisch-geografischen Lage eine Million Menschen besuchten.
Nach Weimar mit seinen 60.000 Einwohnerinnen und Einwohnern zog es 1999 sieben Millionen Menschen. Es wurde zu einem »Kulturhauptstadttheater«, wie der Leiter der ACC-Galerie Frank Motz festhielt – mit einem etwas länger anhaltenden Kater, den Motz bis 2003/04 verspürte. Besonders in Erinnerung aus dem Programm blieb die Ausstellung »Aufstieg und Fall der Moderne«, die Kunst aus dem Nationalsozialismus und der DDR zeigte: die DDR-Werke unwürdig auf LKW-Planen mit Baustrahlern vor Plastestühlen im ehemaligen Gauforum.
Hegel und Marx
Noch eine alte Lok
Am 31. Dezember 2023 hatte Chemnitz 250.681 Einwohnerinnen und Einwohner – 1981 waren es 317.644, im Jahr 2011 nur 240.000. Im aktuellen 59-köpfigen Stadtrat von Chemnitz stellt die AfD mit 15 Sitzen die größte Fraktion. Die CDU hat 13, das BSW 8, die SPD 7, die Linke 5, die Grünen 4, Pro Chemnitz/Freie Sachsen 3, PARTEI und FDP jeweils 2 Sitze. Den Oberbürgermeister – Sven Schulze – stellt die SPD.
Großer Bahnhof
Mit zwei Millionen Gästen rechnet die Gastgeberin im Feierjahr 2025. Für sie organisiert die Kulturhauptstadt GmbH mit einem Budget von rund 91 Millionen Euro gemeinsam mit 100 Initiativen in Chemnitz und 38 Kommunen um Chemnitz herum rund 1.000 Veranstaltungen und Projekte. Allein der Vorschau-Programmband hat fast 450 Seiten.
Chemnitz als »Stadt der Moderne« kündigen nicht nur braune Schilder auf der Autobahn an, sondern auch der Hauptbahnhof mit seiner 1978–84 entstandenen Bahnsteighalle und der sehr schöne Omnibusbahnhof (s. Titelbild), der, 1968 eröffnet, einst als modernster seiner Art in Europa galt. Weniger modern ist der ganzjährig Reisende im Hauptbahnhof empfangende Schwibbogen: Den Rundbogen mit klöppelnder Frau, schnitzendem Mann und zwei Bergmännern in der Mitte entwarf die Leipziger Gestalterin Paula Jordan (1896–1986) für die »Feierohmd-Schau«, die 1937 der Schwarzenberger Waschmaschinenfabrikant Friedrich Emil Krauß unter der Schirmherrschaft des sächsischen Gauleiters Martin Mutschmann organisierte. – Unsichtbar bleibt diese Geschichte wie manch andere auch, die Chemnitz mit der Zeit von 1933 bis 1945 in Verbindung bringen könnte.
Mit der Straßenbahn der Linie 4 geht es vom Hauptbahnhof in Richtung Hutholz – ein Teil des ehemaligen Neubaugebiets Fritz Heckert, das für 30.000 Menschen seit 1974 entstand. Der Weg dahin führt an der Neuen Synagoge und der Haltestelle Villa Esche (1902/03 von Henry van de Velde erbaut) vorbei, dann am Gebäude des alten Flughafens von 1926. Nach zwanzig Minuten Ausstieg an der Haltestelle Ernst-Wabra-Straße und den Berg hoch zwischen sanierten, schmucken Plattenbauten, viel Grün und zahlreichen Aufklebern des Chemnitzer FC. An der Giebelwand der Friedrich-Viertel-Straße 2 sehen wir ein Bild. Das ist in der Stadt nicht ungewöhnlich, doch hier schon. Denn das Bild thematisiert Chemnitz als Täterstadt des NSU, des Nationalsozialistischen Untergrunds. Hier tauchten die drei Haupttäter zwei Jahre unter. An deren Mordopfer erinnert das Bild, das die Freiraumgalerie, ein selbsternanntes »Kollektiv für Raumentwicklung«, gemeinsam mit den Hinterbliebenen entwickelt hat. »In unserer Mitte« steht über allem und betont so das terroristische Netzwerk anstelle von Einzeltäter-Theorien. Das Bild wurde im Oktober 2023 eingeweiht, an der Fassade nennt zudem eine Erinnerungstafel die Namen der NSU-Opfer. In der Stadtmitte – am Johannisplatz 3 zwischen Zentralhaltestelle und Kaufhaus Schocken – eröffnet im Mai 2025 in einem ehemaligen Ladenlokal das Dokumentationszentrum zum NSU.
Macherinnen und Macher
Im Kulturhauptstadt-Programm für die Zeit vom 18. Januar bis zum 29. November wird immer wieder sehr viel Wert auf das hohe Potenzial von Macherinnen und Machern gelegt: So appellieren die »Europäischen Macher:innen der Demokratie« an Zusammenhalt und Teilhabe der Menschen in der Stadt, um sie »als kreative und selbstwirksame Personen zu aktivieren, die ihr Können und Wissen in die Gestaltung ihres gesellschaftlichen Umfelds einbringen«, wie das Programmheft erläutert. Als Hauptprojekt steht eine »Europäische Werkstatt für Kultur und Demokratie«, die sich nicht nur auf Chemnitz und die 38 Partnerkommunen um die Stadt, das Erzgebirge und Zwickau konzentrieren, sondern auch mit Tschechien und Polen kooperieren.
Dann gibt es auch noch »Macher:innen² für innovative und zukunftsfähige Prozesse, die bessere Produkte und neue Sichtweisen auf lokale materielle und immaterielle ›Rohstoffe‹ wie Industriekulturerbe oder Big Data entwickeln«. – Das Agentursprech-Programmheft führt neun »Maker-Hubs« als »neue, wahre Wir-Orte« ein. Zu finden sind diese unter anderem in der Stadtwirtschaft Chemnitz. Sie gehört wie das Besucherzentrum Hartmannfabrik – wir erinnern uns an die Sächsische Maschinenfabrik, vormals Richard Hartmann –, der »Garagen-Campus« und das Ensemble Karl Schmidt-Rottluff zu den »Orten des Aufbruchs« in der europäischen Kulturhauptstadt. Bei der Stadtwirtschaft handelt es sich um ein ehemaliges Areal der Stadtreinigung, das vor 140 Jahren im Stadtteil Sonnenberg entstand. Nun soll hier eine »Keimzelle der Kreativität« entstehen. Der ehemalige Betriebshof der Chemnitzer Verkehrsbetriebe im Stadtteil Kappel wird zum »Garagen-Campus« – als Kulturstandort, der als große Garage nach dem Motto »Erleben, Begegnen, Lernen & Gestalten« fungieren soll – im Widerspruch zum privaten Charakter der Unterstellmöglichkeiten von Fahrzeugen und allerlei mehr. Weitere Hubs befinden sich im Lehngericht Augustusburg, im Esche-Museum in Limbach-Oberfrohna, in Mittweida, in Schneeberg und in Zwönitz.
Garagenromantik
Im Museum für sächsische Fahrzeuge stehen auf kanarienvogelgelbem Fußboden zwei Metallregale, vollgestopft mit allerlei Objekten: unter anderem Werkzeuge, ein Bündel geschnürte Ausgaben von Die neue Fußballwoche, ein Mitropa-Kännchen, ein Plastebecher Handcreme westdeutscher Machart, ein Autokennzeichen von Kati Witt. Dies alles stellte Martin Maleschka unter dem Titel »Ersatzteillager« zusammen. Die Regale stehen in einem der ehemaligen Aufzüge der Hochgarage, in der sich das Museum befindet. Diese entstand 1927/28 und bot auf sechs Etagen 300 Autos Parkplätze. Maleschkas Installation soll »die materielle Kultur der DDR widerspiegeln und als lebendiges Archiv« erfahrbar werden.
Gleichzeitig wird damit aber auch auf das Hauptprojekt zum Themenschwerpunkt »Osteuropäische Mentalität« im Chemnitzer Programm verwiesen: »3.000 Garagen – Garagen auf dem Weg zum Kulturgut. Von Abstellräumen für Autos zu Orten soziokultureller Praxis«. Darin heißt es: »Chemnitz ist eine osteuropäische Stadt in einem westeuropäischen Land.« Der Osten gilt dabei nicht als Himmelsrichtung, sondern als »Biografie und prägend für die Selbstwahrnehmung«, aus der eine »pragmatische Machermentalität« resultiere. Klingt ganz schön martialisch. Was besonders auffällt, dass im gesamten Garagen-Komplex – es gibt in Chemnitz ungefähr 30.000 davon, meist aus Beton, in Gemeinschafts- und Eigenleistung erschaffen, in größeren Anlagen stehend – immer wieder viel Wert auf soziales Leben und persönliche Erinnerungen gelegt wird, aber überhaupt nicht die Frage nach geschlechterspezifischen Räumen und Stereotypen gestellt wird. Man denke an all die lachenden Frauen in den Garagen, die an der Schwalbe oder dem Lada rumwerkeln oder Laubsägearbeiten ausführen, während die Männer zu Hause kochen und mit den Kindern spielen … – Die Garage als »letzte Höhle des Mannes« wird hier völlig ignoriert.
Dass es sich bei den Garagen als sozialem Ort nicht um ein Chemnitzer Phänomen handelt, zeigt beispielsweise die aktuelle Ausstellung im Museum für Thüringer Volkskunde in Erfurt »Garagen/Geschichten – Erkundungen eines Alltagsortes« (bis 16.3.), die in einem gemeinsamen Lehrforschungsprojekt des Seminars für Volkskunde/Kulturgeschichte der Universität Jena und dem Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde in Dresden entstanden ist. Darin geht es sowohl um die Geschichte von Garagenkomplexen und die verschiedenen Formen von Gemeinschaft als auch um den NSU und Kriminalität. Zur Erinnerung: Im Januar 1998 durchsuchte die Polizei Garagen in Jena und fand in einer durch Zschäpe von einem Polizisten angemieteten Garage Rohrbomben. Der bei der Durchsuchung anwesende und per Haftbefehl gesuchte Böhnhardt wird dabei nicht festgenommen und flieht im Anschluss.
Nicht nur in Aue lila
Teil des Kulturhauptstadtprogramms ist der Kunst- und Skulpturenweg Purple Path in 38 Städten und Gemeinden um Chemnitz, im Erzgebirge und in Zwickau. Dessen im besten Wismut-Aue-Lila daherkommender Flyer und der Text zur Ankündigung im Kulturhauptstadt-Programmheft lassen ernsthaft an der Kunstkennerschaft zweifeln: Da werden Künstlerinnen und Künstler klar und fein in »Stars der zeitgenössischen Kunstszene« (Alicja Kwade oder Jeppe Hein) und in »relevante Sächsinnen und Sachsen« (Jana Gunstheimer, Via Lewandowsky oder Olaf Holzapfel) eingeteilt. Es stellt sich auch die Frage, aus welcher Zeit die Formulierungen im Programm stammen: »Chemnitzer Künstler blieben im Westen weitgehend unbekannt.« Das wirkt im Jahr 2025 etwas verwunderlich, denn wenn hier einerseits im Präteritum die DDR-Zeit herbeigeschrieben wird, braucht man andererseits auch keine zeitgenössischen Positionen aus »dem Westen« rund um Chemnitz anzuordnen. Wir leben bekanntlich nicht mehr in den Achtzigern. Offensichtlich ist das dann aber doch noch jemandem aufgefallen: Mit »Oben-Mit (oder: Ein Denkmal für die guten Geister meiner Heimat)« von Osmar Osten im Schillerpark und »Heimat Ensemble II« von Jan Kummer (s. S. 24) in Gersdorf sind nun doch auch lokale Akteure vertreten.
Bestimmte Zeiten, Protagonistinnen und Protagonisten sind im Kulturhauptstadtjahr fast noch unsichtbarer als sonst in Chemnitz: Wo im Programm tauchen etwa die Bestrebungen zu Freiräumen vor und nach 1989 auf? Wo taucht das Beziehungsnetz um Klaus Hähner-Springmühl auf, der eigensinnig und anarchistisch einen Weg als Künstler für nachfolgende Generationen in der Stadt prägte? Wo sind die Aktivitäten nach 1990 – etwa das Kunst- und Kulturzentrum Voxxx in einer ehemaligen Brauerei auf dem Kaßberg? Wer heute an das Macher-Potenzial appelliert, sollte die eigene Geschichte nicht vergessen.
BRITT SCHLEHAHN
■ www.chemnitz2025.de
■ Wie sich das Ganze entwickelt, schauen wir uns ab der kommenden Ausgabe regelmäßig auf den Ausflugsseiten im kreuzer an.
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