Noch bevor wir an der Tür klingeln, spricht uns Rabbiner Zsolt Balla über die Gegensprechanlage an und erklärt den Weg. Vermutlich hat er uns bereits über eine der Kameras vor der Tür erspäht. Balla begrüßt in Anzug und Kippa. Kurz darauf werfen wir einen Blick in den gold- und blauschimmernden Saal der Brodyer Synagoge, dann gehen wir in Ballas Büro und nehmen an einem großen runden Tisch Platz. Die Jalousien sind zugezogen, in den Bücherregalen stehen Fotos von Balla mit Verteidigungsminister Boris Pistorius.
Neben dem Amt als Rabbiner der Israelitischen Religionsgemeinde sind Sie Landesrabbiner in Sachsen, Vorstand der orthodoxen Rabbinerkonferenz und Militärbundesrabbiner für die Bundeswehr und Gemeinderabbiner in Leipzig – haben wir ein Amt vergessen?
Ja, eines, das wichtig und eng mit den anderen verbunden ist: die Leitung des Instituts für traditionelle jüdische Liturgie in Leipzig, angesiedelt am Berliner Rabbinerseminar. Dessen Aufgabe ist es, Vorbeter auszubilden und sie auf die Arbeit in den Gemeinden vorzubereiten. Hier findet die praktische religiöse Ausbildung statt.
Im Zuge Ihrer Ausbildung haben Sie das Hildesheimer’sche Rabbinerseminar in Berlin besucht. Dessen Namensgeber ist der Begründer der modernen Orthodoxie, richtig?
Ja, Esriel Hildesheimer ist eine der wichtigsten Figuren der modernen Orthodoxie. Er wurde vor über 200 Jahren in Halberstadt geboren und ist sicherlich eine der größten rabbinischen Figuren des 19. Jahrhunderts.
Ist das kein Widerspruch: moderne Orthodoxie?
Nein, Modernität und Judentum im orthodoxen Sinne widersprechen sich nicht. Ich spreche aber lieber von gegenwärtiger Orthodoxie. Das heißt, ich passe die Theologie an die Verhältnisse der modernen Zeiten an. Ich habe beispielsweise an einer normalen Universität studiert, habe sowohl einen Magister als Wirtschaftsingenieur gemacht als auch einen Abschluss in Theologie. Im orthodoxen Judentum gibt es sehr unterschiedliche Positionen, etwa zur Frage, wie weit wir für die moderne Gesellschaft offen sein sollen. Rabbiner Esriel Hildesheimer war der Ansicht, für Wissenschaft und Kultur, insbesondere für Wissen, sollten wir absolut offen sein. Mit Blick auf die jüdische Tradition und die Religionsgesetze hat er allerdings keine Kompromisse gemacht. Als orthodoxer Rabbiner mache ich dementsprechend mit Blick auf die Halacha, also alles, was die jüdischen Gesetze betrifft, keine Kompromisse.
Sie sind säkular aufgewachsen, haben aber in der Grundschule erfahren, dass Sie jüdisch sind. Ihr Lieblingsbuch als Kind war die Bibel. Wie sind Sie zur Religion gekommen?
In der Bibel stand alles drin, was man sich vorstellen konnte. Es ging nicht nur um die Geschichte der Juden, sondern auch um die moralischen und ethischen Werte. Von diesen können wir unglaublich viel lernen. Das Judentum kann man nur verstehen, wenn man lernt.
Trotzdem ist ja nicht naheliegend, dass sich ein Kind im Grundschulalter so intensiv mit der Bibel beschäftigt, oder?
Es gibt sicherlich viele Kleinigkeiten und Faktoren, die mich dabei beeinflusst haben. Eine Lebenskrise war es allerdings nicht. Ich war ein glückliches Kind in einem liebevollen Elternhaus, ich suchte in der Religion nicht nach einer Stütze für mein Leben. Obwohl das ja tatsächlich oft passiert, dass Religion für diejenigen, die eine Krise durchlebt haben, eine solche Rolle spielt.
Biografie
Zsolt Balla wurde am 18. Februar 1979 in Budapest geboren. Nach seinem Ingenieursstudium dort zog er 2002 nach Deutschland, wo er in Berlin und am Hildesheimer’schen Rabbinerseminar studierte. Seit 2009 leitet der orthodoxe Rabbiner die Israelitische Religionsgemeinde zu Leipzig, ist seit 2019 auch Landesrabbiner von Sachsen und wurde 2021 zum ersten Militärbundesrabbiner der Bundeswehr ernannt. Balla lebt mit seiner Frau und seinen drei Kindern in Leipzig.
Und was war es dann?
Für mich war es die intellektuelle Herausforderung. Wissen Sie, das Judentum ist unendlich. Noch heute lerne ich jeden Tag neue Dinge, die vielleicht im ersten Moment gar keinen Sinn ergeben.
Stehen in der Moderne nicht viele Erfahrungen im Widerspruch zur Religion?
Mir sind im Judentum keine Werte begegnet, die der heutigen Modernität widersprechen würden. Auch wenn es natürlich sehr viel gibt, das kontraintuitiv wirkt.
Zum Beispiel?
Wenn ich Sie vor 20 Jahren darum gebeten hätte, Ihr Handy am Schabbat auszuschalten, weil man an diesem Tag keine aktive Elektrizität nutzen sollte, hätten Sie womöglich gefragt: Was ist denn das Problem? Heute machen Menschen Digital Detox und verstehen, was für eine Belastung es ist, wenn ich all diese digitalen Geräte nicht einmal in der Woche ausschalte. Erst mal klingt es altmodisch und unvernünftig, das Handy auszuschalten. Aber im Judentum ist vieles sehr bewusst geregelt: Welche Gebetstexte ich etwa lese oder welche Segenssprüche ich spreche, bevor ich etwas trinke. Judentum bedeutet für mich deshalb auch immer: Bewusstsein in all unseren Handlungen.
Das klingt aber auch sehr strukturiert.
Die entscheidende Frage ist doch: Wenn ich viele Strukturen habe, befreit mich das oder beschränkt es mich? Das ist wie bei der Straßenverkehrsordnung. Da lernt man ja auch, wie man von A nach B kommen kann. Meine persönliche Erfahrung ist, dass diese sehr, in Anführungsstrichen, rigiden Strukturen befreien. Die Wahrheit ist, wenn man die religiösen Gesetze ausübt, sind die Einschränkungen überschaubar und man entdeckt eine neue Welt.
Bevor Sie die Rabbinerausbildung machten, haben Sie erst mal Ingenieurwissenschaften studiert. War das nicht ein Bruch?
Viel von unserem religiösen Wissen hat mit Logik zu tun und Logik öffnet die Welt. Ich habe Wirtschaftsingenieurwesen studiert, Engineering Management, um genau zu sein. Da habe ich mich viel mit Verkehr beschäftigt. Wenn Sie auf die Straße gehen und die Ampel sehen, verstehen Sie die Logik hinter der Einrichtung. Sie verstehen, warum die S-Bahn von hier zum Leipziger Flughafen sich etwas windet oder wie die Prozesse beim Einchecken der Koffer funktionieren. Dadurch habe ich einen anderen Blick auf die Dinge bekommen.
Und warum haben Sie sich dann für die Rabbinerausbildung entschieden?
Das war alles sehr fluid. Heute wissen die Jugendlichen oft mit 35 Jahren noch nicht, was für einen Bachelor sie machen wollen. Damals hieß es, du bist 18, jetzt hast du dein Abitur und dann machst du deinen Magister. Meine Eltern haben mich gelehrt, Sachen zu Ende zu bringen. Als ich dann mit 23 Jahren meinen Magister hatte, dachte ich: Warum nicht ein Jahr lang etwas anderes ausprobieren? Ich hatte in dieser Zeit großes Interesse an jüdischer Erziehung und wollte Auslandserfahrungen sammeln. Und dann habe ich gemerkt, dass nicht nur die Jugendarbeit spannend ist, sondern auch die Gemeindearbeit.
Das hat Sie dann dazu bewogen, nach Berlin zu kommen?
Ich wollte an der Jeschiva (Tora- und Talmud-Hochschule, Anm. d. Red.) studieren, weil ich wusste, dass dort eine andere Einstellung zum Lernen herrscht. Man hat von halb acht morgens bis zehn Uhr abends zu tun und lernt, aber nicht für Noten oder eine Prüfung. Da fragt keiner, wie viel man gelernt hat. Es geht eher darum, wie viel von seiner Kraft man investieren kann, damit man versteht. Es geht um die Frage, wo die Verbindungen sind. Was sagten die Rabbiner im Mittelalter, was sagen die Rabbiner der modernen Zeit? Es ging nicht darum, einfach nur Wissen zu sammeln, sondern um die Methodologie und die Liebe fürs Lernen. Eine solche Ausbildung klingt heute ungewöhnlich, ist aber hauptsächlich bei orthodoxen religiösen jungen Männern und inzwischen – Gott sei Dank – auch bei Frauen in unterschiedlichen Formen verbreitet.
Und wie sind Sie dann nach Leipzig gekommen?
Ich habe mich nicht aktiv für den Job hier als Rabbiner beworben, sondern bin praktisch in diese Gemeinde eingeheiratet. Bevor Sie jetzt die typischen falschen Vorstellungen über orthodoxes Heiraten bekommen: Das war keine arrangierte Hochzeit! Es war vielmehr ein Blinddate, das durch einen Rabbiner, der meine Frau aus Leipzig kannte, und einen guten Freund, mit dem ich in Berlin zusammen studierte, eingefädelt wurde. Meine Frau wohnte erst mit mir in Berlin und als ich 2009 mein Rabbinerdiplom bekommen habe, war es für das Rabbinerseminar sehr wichtig, dass wir eine jüdische Gemeinde unterstützen. Da Leipzig zu dem Zeitpunkt keinen eigenen Rabbiner hatte, habe ich 2009 angefangen, die jüdische Gemeinde mitzubetreuen. Das Gemeinderabbinat hat mir dann so viel Spaß gemacht, dass wir 2010 nach Leipzig gezogen sind. Für meine Frau war diese Stadt immer Heimat und ich sehe das absolut genauso.
Wie kann man sich das Gemeindeleben mit rund 1.100 Mitgliedern – also deutlich weniger als in Berlin oder Frankfurt am Main – vorstellen?
Die Größe der Gemeinde ist nicht immer quantitativ zu messen. Wenn Sie zum Beispiel nach Berlin-Mitte schauen, wo das Rabbinerseminar ist, dann wohnen dort wahrscheinlich nur vier- bis fünfhundert religiöse jüdische Menschen. Aber die sind alle engagiert. Da kommen jeden Morgen 90 bis 100 Männer zur Synagoge. Das ändert das ganze Bild auf der Straße. In der Bevölkerung herrscht eine komplett falsche Vorstellung darüber, wie die jüdische Gemeinde in Leipzig aussieht. In den neunziger Jahren gab es einen großen Willen der Regierung Kohl, das jüdische Leben zu revitalisieren. Dafür wurden jährlich 10.000 jüdische Kontingentflüchtlinge aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland gelassen. Das Problem ist, dass sie aus einem Land kamen, das seit 70 Jahren säkularisiert war. Wie kann ich von ihnen erwarten, dass sie das jüdische Leben revitalisieren? In ihrer Geburtsurkunde steht zwar die Nationalität Jude, weil das in der Sowjetunion eben so vorgeschrieben war. Aber was hat das mit religiösen Werten zu tun? Fast nichts. Deshalb ist die Erziehungsarbeit in der Gemeinde auch so unglaublich wichtig.
Gibt es dennoch Wege, diese Mitglieder in das Gemeindeleben zu integrieren?
Von säkular zu religiös ist es ein großer Sprung und führt in ein Paradox: Man braucht zwar das religiöse Leben, etwa koschere Restaurants oder eine offene Synagoge, aber vom orthodoxen Leben will man nicht so viel wissen. Das geht nicht. Man muss eine Balance schaffen, auch wenn es schwer ist. Ich weiß auch nicht, wie die Zukunft aussieht. Aber die Säkularisierung kann man nicht aufhalten, man muss sich auf den Kern fokussieren. Vielleicht sind wir in ein paar Jahren von 1.100 noch 500. Aber das Ziel ist, dass diejenigen, die bleiben, sich nicht vom Judentum entfernen. Warum kommt jemand jeden Samstagmorgen zur Synagoge? Nicht, weil er besonders religiös ist, sondern weil es das ist, was wir Juden machen. Das zu vermitteln, dauert lange.
Führt diese Säkularisierung und Ihr modern-orthodoxes Religionsverständnis zu Debatten in der Gemeinde?
In der Gemeinde hier überhaupt nicht.
Wünschen Sie sich das?
Nein, was ich mir wünsche, ist, dass wir jedem einzelnen Menschen, der zu unserer Synagoge kommt, mit Liebe und Verständnis begegnen. Das ist, was wichtig ist. Da ist es absolut egal, ob ich mich orthodox oder nicht orthodox nenne. Wir müssen jeden Einzelnen schätzen, der hierherkommt.
Vor der Shoah hatte die jüdische Gemeinde in Leipzig eine sehr traditionsreiche und lange Geschichte. Haben Sie Kontakt zu den ursprünglichen Leipziger Familien?
Ja, die Stadt Leipzig hat ein jährliches Besuchsprogramm für Nachkommen von ehemaligen Leipzigern. Interessanterweise kommen da nicht viele Menschen, die heute in der religiösen Welt sind. Aber ich habe sehr viele Verbindungen zu orthodox-jüdischen Menschen, die aus Leipzig stammen. Ihre Unterstützung zeigt sich zum Beispiel in Form einer Tora-Rolle oder dem rituellen Bad, der Mikwe, die uns 2008 von den Enkelkindern des letzten rabbinischen Richters in Leipzig geschenkt wurde. Seine Nachkommen unterstützen uns bis heute. Unsere wunderschöne Chanukkia (neunarmiger Leuchter, Anm. d. Red.), die jetzt jedes Jahr während Chanukka in der Gottschedstraße steht, wurde von der Familie Stern gestiftet, einer ehemaligen Leipziger Familie, die heute in Jerusalem wohnt. Diese Verbindungen sind nicht selbstverständlich und unglaublich wichtig.
Sie sind also gut vernetzt?
Sie kennen sicher die Idee der six degrees of separation, also, dass alle Menschen über maximal sechs soziale Beziehungen auf der Welt miteinander verbunden sind. Innerhalb der orthodoxen Welt sind es normalerweise nur zwei. Wenn ich irgendwo hinkomme und auf der Suche nach koscherem Essen bin, kann ich sofort jemanden anrufen, der mir sagt, wo ich hingehen kann. Sie können mir jeden Ort auf dem Globus nennen, wo innerhalb von zwei Stunden jemand kommt, um zu helfen. Das ist keine Verschwörungstheorie! (lacht) Es ist einfach ein Netzwerk!
Verschwörungstheorie ist ein gutes Stichwort. Kommen wir zu den politischen Entwicklungen …
… politische Entwicklungen?
Ja, gerade waren die Landtagswahlen in Sachsen …
Wissen Sie, ich habe manchmal ein persönliches Problem: Ich bin zu glücklich. Was meine ich damit? Natürlich beobachte ich die Entwicklungen sehr genau. Die Rechtsradikalen, die Linksradikalen. Aber diese Entwicklungen sind ja nicht auf Deutschland beschränkt. Wenn ich mir anschaue, was in Ungarn los ist, was in den USA los ist: Da fasse ich mir an den Kopf. Ich habe keine Ahnung, was da los ist. Ich weiß nur, dass in Leipzig irgendwie alles in Ordnung zu sein scheint. Wenn unsere Freunde aus Westdeutschland uns nicht besuchen wollen, weil sie sagen, sie haben zu große Angst vor den Rechtsradikalen, dann sage ich immer: Leipzig ist kein Problem. Für mich ist Leipzig eine Insel innerhalb von Sachsen, innerhalb von Deutschland, innerhalb von Europa. Vielleicht irre ich mich aber auch.
Woran liegt es, dass es hier so anders ist?
Das kann ich nicht erklären. Aber es freut mich. Ich freue mich über die Menschen, die hier wohnen und das Beste für die Gesellschaft tun. Ich möchte nicht, dass Leipzig eine Insel bleibt, sondern dass sich diese Harmonie, die wir in der Stadt erleben, in Deutschland verbreitet. Wenn ich zum Beispiel zum Hauptbahnhof gehe, um das Brot zu holen, das ich esse, dann kaufe ich es bei jungen Muslimen aus dem Iran, mit denen sind wir beste Freunde. Warum auch nicht?
In einem Interview mit der FAZ haben Sie gesagt, dass Sie sich Sorgen machen, dass die Spaltung der Gesellschaft zunimmt. Nehmen Sie die in Leipzig nicht so wahr?
Ich kann hier schon Sachen wahrnehmen. Es ist auch hier leider nicht mehr sicher, auf der Straße mit einer Kippa unterwegs zu sein. Aber noch mal: Im Vergleich zu anderen Orten ist es hier trotzdem besser. Ich sehe in aller Art von Radikalisierung ein ernsthaftes Problem. Ich weiß nicht, wie man das bekämpfen kann. Und ich denke auch, dass ich die falsche Adresse bin, wenn selbst Politiker und Sozialwissenschaftler innerhalb der letzten 80 Jahre kein Gegenmittel gegen Rassismus, Antisemitismus, Xenophobie oder Fremdenhass gefunden haben. Wer bin ich also, um das zu beantworten, in welche Richtung wir gehen? Das Einzige, was ich als Rabbiner sagen kann: Die einzige Möglichkeit ist es, in Gott zu vertrauen, dass er die Welt so führt, dass sie am Ende so ist, wie sie sein soll. Wie und wann, das kann ich leider nicht sagen.
Kehren wir zurück nach Leipzig, was ist denn Ihr Lieblingsort hier, jenseits der Synagoge?
Das ist nicht fair! Es ist natürlich die Synagoge. Ansonsten … (überlegt) Die ganze Innenstadt. Ich liebe auch die SAB.
Sie lieben die Sächsische Aufbaubank?
Das Gebäude ist hervorragend, um durchzuspazieren, wenn ich von hier in die Innenstadt gehe. Im Sommer, wenn die Kinder dort rumrennen, das ist doch wunderbar. Ich mag die Innenstadt, diese Harmonie von Neubau und Altbau nebeneinander. Ich liebe auch die Passagen. Aber die Synagoge ist für mich natürlich das Nonplusultra. Sie hat einfach eine wunderbare Akustik und ist ein Ort des Gebets, des Zusammenkommens.
INTERVIEW: ANNA HOFFMEISTER & FELIX SASSMANNSHAUSEN