anzeige
anzeige
Stadtleben

»Es gibt hier keine Massenabfertigung«

Der Familienentlastende Dienst in Leipzig wird 30 – ein Gespräch über Unterstützung für pflegende Angehörige

  »Es gibt hier keine Massenabfertigung« | Der Familienentlastende Dienst in Leipzig wird 30 – ein Gespräch über Unterstützung für pflegende Angehörige  Foto: Christiane Gundlach

Vier von fünf Pflegebedürftigen werden in Deutschland zu Hause von ihren Familienangehörigen gepflegt. Als Entlastung oder Not-Hilfe für die Angehörigen bietet der Familienentlastende Dienst (FED) in Leipzig nun seit 30 Jahren Kurzzeitbetreuung in einer Wohngruppe an. In der Heinrichstraße in Reudnitz können Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit einer Behinderung, die von ihren Familien gepflegt werden, ein paar Stunden oder über mehrere Tage oder Wochen in der Wohneinrichtung bleiben. Es gibt eine große Küche für alle, Einzel- und Gemeinschaftszimmer sowie eine barrierefreie Einrichtung in allen Räumen. Wir haben mit Heilerziehungspfleger Sisco Reinschk und Teamleiterin Carmen Hesse-Helmert darüber gesprochen, wie das Betreuungsangebot funktioniert.

Wie ging es vor 30 Jahren mit dem Familienentlastenden Dienst los?

REINSCHK: Die Gründungsgeschäftsführerin wollte damals aus eigener, persönlicher Erfahrung Unterstützung für Familien schaffen, die ihre Angehörigen zu Hause begleiten. Unterstützung, die es bisher so nicht gab – individuell, familiär, fördernd, akzeptierend. So entstanden die ersten Übernachtungsplätze.


Wir sind gerade in der Wohngruppe des FED. Warum ist niemand hier?

HESSE-HELMERT: Die meisten Gäste sind am Wochenende da. Und Ende des Jahres ist es meist ruhiger – weil viele Angehörige dann kein Budget von der Pflegekasse mehr haben. Die meisten Gäste kommen ohnehin eher zur Haupturlaubszeit der Angehörigen.


Das heißt, den Aufenthalt hier bezahlt man selbst?

REINSCHK: Wenn Menschen mit einer Behinderung einen Pflegegrad haben, dann haben sie Anspruch auf bestimmte Leistungen der Pflegeversicherung. Über diese Leistung wird die Pflege und Betreuung hier bezahlt: Also »hotelbedingte Kosten« für Unterkunft und Verpflegung bezahlen die Familien privat, die Arbeitskraft läuft über die Pflegeversicherung.


Warum nutzen Familien Ihr Angebot?

HESSE-HELMERT: Weil viele Familien Entlastung brauchen. Sie wollen ihre Angehörigen bewusst zu Hause begleiten. Zu uns kommen die Menschen mit Unterstützungsbedarf, wenn die Eltern Urlaub machen wollen, ins Krankenhaus müssen oder zur Reha gehen, zum Beispiel. Oder einfach mal ein Wochenende als Paar verbringen wollen. Diese Auszeit ist wichtig, viele tun es nicht und gehen an oder auch über ihre Grenzen. 


Gibt es nicht genug Plätze in stationären Pflegeeinrichtungen?

REINSCHK: Der Bedarf für die dauerhafte Unterstützung ist viel höher, als er in stationären Einrichtungen abgedeckt werden kann. Viele Eltern suchen individuelle Unterstützungsmöglichkeiten. Das ist schwierig, weil es Zeit und Geld braucht, vor allem aber Wohnraum: Bezahlbare Wohnraummöglichkeiten in der entsprechenden Größe sind in Leipzig aber gar nicht existent. Viele entscheiden sich bewusst dafür, ihre Angehörigen selbst zu begleiten, solange es geht.


Sie helfen aber auch in Notfallsituationen?

REINSCHK: Wir haben immer mal Familien, bei denen es quasi brennt, wo wir dann eine Notaufnahme machen müssen, weil irgendwas vorgefallen ist. Das kommt ein bis zwei Mal im Jahr vor.


Wie viele solcher Angebote gibt es in der Stadt?

REINSCHK: In Leipzig gibt es das in dieser ambulanten Struktur, wie über den FED organisiert, nicht noch mal. Es gibt Plätze für Kurzzeit- und Verhinderungspflege in stationären Einrichtungen, also entweder in Altenheimen oder in Einrichtungen für behinderte Menschen. Das sind größere Strukturen mit Wohngruppen von meist 20 Leuten.


Welche Vorteile bietet so eine kleine Einrichtung?

HESSE-HELMERT: Wir können zum Beispiel alle gemeinsam an einem Tisch sitzen. Meistens sind es maximal fünf Klienten und ein oder zwei Kolleg:innen. Und wenn wir jemandem das Essen reichen müssen, können wir trotzdem eine adäquate Betreuung garantieren. Und das ist uns wichtig, dass das hier keine Massenabfertigung ist.

REINSCHK: Es ist persönlicher und sehr familiär. In einem Wohnheim mit hundert Menschen, mit zwei oder drei Plätzen für eine Kurzzeitpflege, da müssen sie sich in den Rhythmus der anderen Bewohner eingliedern. Da wird kein extra Tagesablauf für die Gäste gemacht. Wir hier können uns anpassen: Wenn jemand bis zehn Uhr ausschlafen möchte, ist das in Ordnung. Es müssen nicht alle zur gleichen Zeit das Gleiche machen.


Blick in eines der ZimmerWie sieht der Alltag hier aus?

HESSE-HELMERT: Wir versuchen, den Tagesablauf für die Gäste so zu gestalten wie zu Hause: Wir machen die nötige Grundpflege, wir waschen Wäsche und wir kochen und essen die Mahlzeiten gemeinsam. Wir machen auch Spaziergänge und Ausflüge, zum Beispiel in den Zoo oder ins Kino. Viele Gäste beschäftigen sich auch sehr gut selbst. Bei schönem Wetter essen wir im Hof oder grillen im Sommer. Wir wollen, dass die Eltern ein gutes Gefühl haben, wenn sie ihre Angehörigen bei uns lassen.

 

> 30 Jahre Familienentlastender Dienst (FED) Leipzig – Tag der offenen Tür: 18.1., 10–18 Uhr, Heinrichstr. 9, 04317 (Reudnitz-Thonberg)


Kommentieren


0 Kommentar(e)