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Diamanten und Magnete

Zwanzig Jahre Rundgang – wie steht es um die Marke Spinnerei?

  Diamanten und Magnete | Zwanzig Jahre Rundgang – wie steht es um die Marke Spinnerei?  Foto: Christiane Gundlach

»Einer der stärksten Magnete der Stadt« sei das Gelände entlang der Spinnereistraße in Neulindenau, sagt Bertram Schultze. Er ist Geschäftsführer der Leipziger Baumwollspinnerei Verwaltungsgesellschaft mbH und von Coloured Fields. Das Unternehmen hat sich – auch abseits der Spinnerei – »auf die Konversion von Brachflächen und die Revitalisierung von Industrieanlagen im Kontext von integrierter Stadtentwicklung spezialisiert«, wie auf der Spinnerei-Homepage nachzulesen ist. Der Name bezieht sich auf jene brown fields, die in der Urbanistik für Brachflächen stehen. »Wir kuratieren Areale zu urbanen Magneten und stoßen damit nachhaltige Stadtentwicklung an«, heißt es dort weiter. Insbesondere »durch die Spinnerei in Leipzig hat sich unser Unternehmen einen hervorragenden Ruf bei Mietern, Kommunen und bei der Landespolitik erworben. Wir beleben mit unseren Projekten Städte, schaffen positive Presse und etablieren nachhaltige Qualität in Architektur und Inhalten. Wir genießen sehr großes Vertrauen darin Orte zu schaffen, die wegen der richtigen Mischung aus Mietern und Themen eine Strahlkraft entwickeln und eine hohe öffentliche Wahrnehmung erfahren«, attestiert sich das Unternehmen selbst auf der Homepage des Chemnitzer Wirkbaus, den es unter anderem auch entwickelt.

Dass zwischen Wirtschaftlichkeit und Image mitunter auch Sand ins Getriebe gerät, erzählte unsere Titelgeschichte von Clemens Haug im kreuzer 11/2019. Wie aber ist die Kunst-Marke Spinnerei entstanden?

2001: The Place to be

Ein starker Magnet braucht ein Gegenüber, das ihn stark macht, sagt im holzvertäfelten Besprechungszimmer der Spinnerei mit stehengebliebener Standuhr und historischer Fabrikansicht Bertram Schultze, mit dem wir über die Anfänge und mehr als zwei Jahrzehnte Spinnerei gesprochen haben. Auch die Stadt wirke in Richtung Spinnerei. Es sei ein Geben und Nehmen – für die Attraktivität der Spinnerei im Kleinen, aber auch für Leipzig, beim ersten Spinnerei-Rundgang vor zwanzig Jahren noch eine schrumpfende Stadt. Damals hatte sich mit Neo Rauch bei der Galerie Eigen+Art und den jüngeren Malern wie David Schnell und Matthias Weischer der Produzentengalerie Liga (2002–04) das Schlagwort der Neuen Leipziger Schule etabliert. Das schaffte schnell Orientierung – stieß aber bei den Künstlerinnen und Künstlern selbst auf wenig Gegenliebe. Christoph Ruckhäberles Gemälde »Vorstadt« zeigte 2002 die Spinnerei-Architektur zitierend das künstlerische Ich zwischen Galerist und Professor springend.

Bertram Schultze und seine Mitstreiter Florian Busse und Tillmann Sauer-Morhard von der MIB AG – der später Coloured Fields zur Seite gestellt wird – haben das zehn Hektar große Spinnerei-Gelände 2001 gekauft: 4 Hallen und 16 Funktionsgebäude. Im Gegensatz zu anderen Industriegeländen verfügte die Spinnerei damals über eine relativ gute Bausubstanz. Die Hallen waren so gebaut, dass konstant 23 Grad Innentemperatur herrschte, damit das Garn läuft – mit begrünten Dächern und doppelt verglasten Kastenfenstern. Errichtet wurden die Gebäude zwischen 1884 und 1907 für die Aktiengesellschaft Baumwollspinnerei – mit Arbeiterwohnungen, Betriebskindergarten und Schrebergartensiedlung. Verkäufer war 2001 Rolf-Michael Kühne, der auf dem Gelände von 1993 bis 2000 mit 40 Angestellten Reifencord produzieren ließ, nachdem er es der Treuhand abgekauft hatte. Bis 1989 bildete die Spinnerei einen Teil des VEB Vereinigte Baumwollspinnereien und Zwirnereien Flöha, der Garne und Zwirne für Webereien und Trikotagebetriebe sowie Reifenkordgewebe für technische Gewebe herstellte und vertrieb, zudem Polyesterseiden für Deko- und Gardinenstoffe veredelte.

Bertram Schultze
Auf dem Dach der Halle 14: Bertram Schultze | Foto: Christiane Gundlach

Beim Kauf habe kein Masterplan für das Gelände existiert, sagt Schultze. Stattdessen seien es eher Zufälle wie das Label Neue Leipziger Schule mit den hier ansässigen Akteuren gewesen, die der Stadt und dem Kunstfeld seit den 2000er Jahren neue Aufmerksamkeit bescherten. Das Schlagwort wirke bis heute – Schultze sieht den Bevölkerungszuwachs in der Stadt »vielleicht auch wegen der Spinnerei« und der internationalen Bekanntheit der Neuen Leipziger Schule. Das wäre die eine Seite. Leipzig als Kulturstadt bildet die andere: Hier werde ein Projekt wie die Spinnerei ganz anders wertgeschätzt als beispielsweise in Nürnberg, wo Coloured Fields nach dem Weggang der Waschmaschinenproduktion »Auf AEG« entwickelt hat. Nürnberg definiere sich als Arbeiterstadt und so spielt dort auf dem Gelände Kunstansiedlung keine Hauptrolle – es fehle dort das Grundverständnis für solch einen Ort. Schultze selbst hat von 1994 bis 1996 in der Spinnerei gearbeitet, unter anderem Möbel gebaut – der Tisch, der noch heute zwischen der Galerie Kleindienst und der Weinhandlung steht, ist von ihm.

Der Kunststandort Spinnerei wurde mit der Ansiedlung des Künstlergroßhandels auch für auswärtige Nichtmieter attraktiv. Durch das Werben der kommerziellen Leipziger Galerien ab 2005 wurde der ehemalige Industrieort mit Raum zum Wohnen und Erholen in einen postindustriellen Komplex verwandelt.

Dank der vorhandenen Bausubstanz habe man nach dem Kauf »nicht so viel Geld reingesteckt«, sagt Schultze rückblickend. In erster Linie wurden damals die Innenräume aufgeteilt und mit Haustechnik versehen. Die Galerien und Kunsträume führten im Laufe der Zeit dazu, dass »die Menschen hier mehr Zeit als in jedem Museum in der Stadt verbringen«, behauptet Schultze. Gleichzeitig sei es allerdings auch schon früh darum gegangen, dass sich das Gelände nicht zu einem Zoo entwickele, in dem Touristenbusse auf Safari gehen. All dies führte dazu, so Schultze, dass die Spinnerei zum »Place to be« wurde.

Dass sich die Zahl der Ateliers und der darin Arbeitenden zu der Zeit bereits verdoppelte und eine lange Warteliste für Arbeitsraum auf der Spinnerei existierte, heißt aber nicht, dass es keine Ateliers mehr gab. Vielmehr suchte sich die Verwaltung auch die ansprechenden Künstlerinnen und Künstler aus, die sie auf dem Gelände beheimaten wollte. Wichtig sei damals wie heute vor allem ein ernsthaftes Kunstmachen und das Potenzial.

Galerist Jochen Hempel wurde damals im Spinart-Magazin, das die LVZ 2010/11 aufwendig mit großen Werbestrecken zu den Frühjahrs- und Herbstrundgängen produzierte, zitiert: »Wir als Ostler hatten damals noch gar nicht so einen klaren Blick auf die Potenz des Geländes.«

Wobei in Leipzig ein gemeinsamer Ort für Ateliers und Galerieräume (von Eigen+Art und Dogenhaus) sowie einen Club (die Zündspule) schon Anfang der Neunziger in der Zentralstraße 7/9 ausprobiert worden war. Aus dem baufälligen Gebäude zogen die Galerien ins Musikviertel, wo 1998 auch die Galerie für Zeitgenössische Kunst eröffnete und es die ersten Rundgänge mit gemeinsamen Eröffnungsterminen gab.

2000er Jahre: The hottest Place on Earth

Als Ende April 2005 die Galerien Eigen+Art, Kleindienst, Maerzgalerie, Galerie B2, ASPN und Dogenhaus ihre Ausstellungen zum ersten Spinnereirundgang öffneten, rechneten sie mit 2.000 Besucherinnen und Besuchern. Es kamen über 10.000.

Sie sahen die neuen Räume – etwa die der Eigen+Art, die der Vermieter mit Fußbodenheizung ausgestattet hatte, um die Galerie aus dem Musikviertel anzulocken. Hell, hoch, fast schon museal.

VEB Vereinigte Baumwollspinnereien
Bis 1989 bildete die Spinnerei einen Teil des VEB Vereinigte Baumwollspinnereien und Zwirnereien Flöha
| Foto: Christiane Gundlach

Schon zwei Jahre nach dem ersten Rundgang nannte der britische Guardian die Spinnerei »The hottest Place on Earth«. Die internationale Aufmerksamkeit stieg, Galerien unter anderem aus New York und London eröffneten Filialen in Neulindenau, es waren Arbeiten von Damien Hirst, Daniel Buren und Jannis Kounnelis zu sehen. Hirst diktierte dem Spinart-Magazin: »Ich glaube, es ist für einen Künstler besser, etwas zu kreieren, wenn nicht so viel Geld um ihn herum ist.« Bessere Standortreklame kann sich niemand wünschen.

Da darf die Leipzig Tourismus und Marketing GmbH nicht fehlen. Sie stellte ein Motiv nach, das die Spinnerei in ihrem 2005 bis 2015 regelmäßig erschienenen Spinnerei-Report publizierte: Das Original zeigt einen Menschen, der eine mit Farbfeldern versehene Leinwand übers Spinnereigelände trägt. Die LTM hat das fürs Schaufenster der Tourist-Information – direkt gegenüber vom Museum der bildenden Künste – mit dem Slogan »Kunstverliebt im großen Stil« kopiert: mit einer Person, deren Oberkörper durch eine mit einem Haus und Garten naturalistisch-behäbig bemalte Leinwand verdeckt ist. Das im Juni stattfindende Start-up-Festival Machn preist seinen Austragungsort Spinnerei als die »interessanteste Produktions- und Ausstellungsstätte für zeitgenössische Kunst und Kultur in Europa« an. Aber was sagen die vor Ort Tätigen, wie sehen sie ihre Spinnerei?

2025: Jubiläum, Jubiläum

Ihre Galerie ASPN (Active State Programmer Network) sei nur auf der Spinnerei möglich, so Arne Linde im Gespräch mit dem kreuzer. Dazu komme Leipzig als Kunststandort mit einer »gesunden Größe« und genügend Qualität vor Ort. Nach »Höhen und Tiefen« in den zurückliegenden zwanzig Jahren sagt Linde heute: »Die Lage bessert sich.« Europa rücke mehr in den Fokus, es gebe eine Rückbesinnung auf den Ort, wo Qualität und Werte existieren. »Kunst als gesellschaftliches Segment« und als »Trainingsraum von Kommunikation« zu verstehen, ist Linde wichtig. Es gehe ihr nicht ums Pushen einzelner künstlerischer Positionen. Auf das Label Neue Leipziger Schule hat sie nicht gesetzt. In ihrer ersten Ausstellung 2005 – noch bei Jochen Hempel – zeigte sie fotografische Positionen von Arthur Zalewski und Harry Hachmeister sowie mit Matthias Reinmuth Malerei aus Berlin. Längst gehören aber auch Leipziger Malerinnen und Maler zu ihrer Galerie. Linde interessiert sich für Identitätsbefragung, sucht nach jüngeren Positionen, die »am Puls der Zeit forschen«. Als erste Galeristin auf dem Gelände hätten ihr alle Türen offengestanden und: »Leipzig und die Spinnerei haben einen ganz guten Klang«, nach wie vor. Letztes Jahr wurde Linde in den Beirat der Kunstmesse Art Karlsruhe berufen und sieht dies auch als Anerkennung ihrer Arbeit der letzten Jahrzehnte.

Außer Rundgang und ASPN feiert auch die Produzentengalerie B2 im Mai ihren 20. Geburtstag. Mit dem Namen des Kunstraums, der seit 1997 auf der Spinnerei existiert hatte, stellte sie sich zum Rundgang 2005 vor. Im Gegensatz zu herkömmlichen Galerien, deren künstlerische Position von der Galerieleitung ausgesucht und vertreten wird, organisieren in der B2 die Künstlerinnen und Künstler selbst den Galeriebetrieb. Die erste Ausstellung – »Superland« von Oliver Kossack – kaufte 2005 ein südkoreanischer Sammler komplett auf. Eine Einmaligkeit. Zwanzig Jahre später spricht der kreuzer mit drei Generationen der Galerie: Bea Meyer (*1969 in Karl-Marx-Stadt, Mitgründerin der B2), Heide Nord (*1980 in Halle/S., seit 2016 bei B2) und Florian Merdes (*1989 in Heidelberg, seit 2024 bei B2). »Kaum woanders vorstellbar«, sei ihre Galerie, auch wenn ihre Positionen fernab der Neuen Leipziger Schule etwas ganz Eigenes, Dynamisches zeigen, sagt Bea Meyer. Heide Nord und Florian Merdes betonen das gemeinsame Sprechen und Arbeiten, woraus neue Projekte über die eigene künstlerische Produktion hinaus entstünden.

Florian Merdes, Heide Nord, Bea meyer
Drei Generationen B2: Florian Merdes, Heide Nord und Bea Meyer (v.l.n.r.) vor Arbeiten von Anna M. Kempe |
Foto: Christiane Gundlach

»Erst« seit 2015 gibt es die von Katharina und Ulrich Thaler betriebene Galerie Thaler Originalgrafik. Was in der Halle 3 auf drei mal sechs Metern anfing, befindet sich heute in der Halle 18. Zuvor arbeitete Ulrich Thaler bei Kleindienst und beobachtete, dass »die Galerien scheinbar Grafiken und Arbeiten auf Papier als eher weniger interessant für ihren Ausstellungsbetrieb verstanden«. So informierte er sich bei den auf dem Gelände befindlichen Galerien, ob es okay sei, wenn sie sich auf Papierarbeiten konzentrieren würden. Papierarbeiten, so Thaler im Gespräch mit dem kreuzer, »sind niedrigschwellig, daher haben wir ein breiteres Publikum als die anderen Galerien«. Dennoch: »An einem anderen Ort in Leipzig wäre die Galerie so nicht möglich.« Auf der Spinnerei herrsche eine »komfortable Situation«, um die sie Galeristen von anderswo beneiden würden, so Thaler. Über die Jahre hat er beobachtet, dass die Rundgänge lokaler geworden sind. Wer erinnert sich nicht an die Berichte, dass der Flughafen keine Privatjets der internationalen Sammlergemeinde mehr aufnehmen könne. Davon ist seit einem Jahrzehnt nicht mehr die Rede.

Und wie sieht eine Institution wie die Halle 14 die Entwicklung auf der Spinnerei? Das Zentrum für zeitgenössische Kunst verwaltet heute 9.000 der 20.000 Quadratmeter der Gesamtfläche der Halle – neben den Ausstellungs- und Vermittlungsräumen auch Ateliers (über die angespannte Lage siehe kreuzer 3/2025). Seit 2003 ist Michael Arzt hier tätig, heute als künstlerischer Leiter. »Rückwirkend betrachtet, ist die Idee aufgegangen, mit Kunst und Kultur das große Gelände zu beleben«, sagt er. Nach den Rundgängen gehe Arzt in die Galerien, die »alle ein bemerkenswertes Profil« hätten und ihm für ihr Durchhaltevermögen »hohen Respekt« abverlangten. Arzt bezeichnet die Spinnerei als einen Kosmos, als »Luxus mit einer hohen Dichte an Kunstentwicklungen« und als Motor einer sehr lebendigen Kunstszene. Nicht zuletzt sei sie auch Vorbild geworden für andere Immobilien, »die ihren eigenen Weg gefunden haben – wie das Tapetenwerk oder auch der Kulturhof in Gohlis«.

Arne Lind
ASPN: Arne Linde in ihrer Galerie vor Arbeiten von Johannes Rochhausen | Foto: Christiane Gundlach

Michael Ludwig, seit 15 Jahren Leiter der Informationsstelle und Pressesprecher der Spinnerei im Archiv Massiv sieht nach wie vor großes Interesse am ehemaligen Industriekomplex. Er und fünf freie Mitarbeitende bieten wöchentlich durchschnittlich zehn Führungen übers Gelände an, vor allem internationale auf Englisch. Für Ludwig stellt die Spinnerei »eine Stadt in der Stadt mit einer internationalen, besonderen Mischung« dar, ist ein »Tourismusmagnet«. Was ihm fehlt, sind Angebote für den späteren Abend (meint: nach den Vorstellungen im Luru-Kino, das er hier mit Christoph Ruckhäberle seit 2009 betreibt), das ursprünglich von der Stadt hier geplante Naturkundemuseum (Ludwig ist passionierter Ornithologe) und eine Haltestelle direkt vorm Eingang des Geländes. Die gibt es jetzt zum Rundgang am 3./4. Mai und zum Herbstrundgang, der Quartiersbus 64 hält an der Spinnerei. Ansonsten wurde die Linie aufgrund der spärlichen Auslastung wieder eingestellt. Passende ÖPNV-Angebote zu entwickeln, bleibt aber städtisches Ziel: Der Stadtrat hat 2023 das »Liniennetz für die Zukunft« beschlossen, inklusive einer Direktanbindung der Spinnerei an den ÖPNV, »nicht mehr als 100 Meter vom Eingang der Halle 7 entfernt«. Apropos.

Die Stadt auf der Spinnerei

Auch die Stadt Leipzig möchte mit der Spinnerei glänzen. 2016 wurde beschlossen, die Halle 7 am westlichen Ende des Geländes als Ort für städtische Institutionen zu fördern und zu kaufen. Lofft und Leipziger Tanztheater haben hier im März 2019 eröffnet. Wer heute über die Spinnerei vom östlichen Beginn am Verwaltungsgebäude entlang der Schienen gen Westen schlendert, muss das Gelände erst verlassen, um durch einen bekrönten Eingangsbereich das Lofft betreten zu können. Den direkten Weg blockiert eine andere städtische Baustelle: Wo zuerst das Naturkundemuseum geplant war, entsteht nun das Innovationszentrum des »Smart Infrastructure Hub Leipzig«, das im zweiten Quartal 2026 öffnen soll. Dann wird das Spinlab, »the HHL Accelerator« in der Halle 14 (siehe kreuzer 11/2019), mehr als zehn Jahre auf der Spinnerei sein. Das städtische Gründerzentrum möchte überregionalen und internationalen Teams helfen, ihre Unternehmensideen in der Stadt umzusetzen – mit dem Ziel, Arbeitsplätze und Steuerkraft in Leipzig zu stärken. Stotterte es schon im Getriebe für das Naturkundemuseum, das hier 2018 zum Erliegen kam, weil die anvisierten Baukosten von 10 auf über 30 Millionen Euro angewachsen waren, musste der Stadtrat nun im Dezember über den Mehrbedarf für den Ausbau der Halle 7 abstimmen: Neben den 11,2 Millionen Euro für Erwerb und Ertüchtigung der Halle beschied der Stadtrat weitere 6,3 Millionen Euro für erhöhte Baukosten aufgrund der »aktuellen Marktsituation« und der Gebäudesubstanz. Die Geschossdecken sind in schlechterem Zustand als angenommen, so dass ein detailliertes Betonsanierungskonzept für Stahlbetondecken erstellt werden muss. Die Statik bereitet Probleme und die Kosten für die notwendige Abdichtung des Untergeschosses waren in der Grobkostenschätzung schlicht nicht enthalten. Um die Barrierefreiheit zu gewähren, muss zudem ein Fahrstuhl eingebaut werden. Aber es wird auch Einsparungen geben: Die Einbruchmeldeanlage wird nicht montiert, der Sanitärbereich erhält nur Standardausstattung und auf mobile Trennwände wird ebenso verzichtet wie auf eine Klimaanlage. Statt geschliffenem Gussasphalt schmückt preiswerteres Linoleum den Boden.

Die Spinnerei als politische Bühne

Die historische Bausubstanz ist ein wichtiger Faktor für die Marke Spinnerei, die einträchtig Ateliers und Galerien mit Theatern, aber auch einem Call Center vereinigt. Wird in der künstlerischen Arbeitsweise immer die protestantische Ethik in der Ausübung betont, werden Erinnerungen an die konkrete industrielle Produktion vor Ort und dessen politische Geschichte ignoriert. Nichts verweist auf den größten Kriegsverbrecherprozess der Sowjetischen Besatzungszone, der hier stattgefunden hat: Aufgrund des großen Interesses wurde am 15. November 1948 hier die Hauptverhandlung des Kamienna-Prozesses zu den Verbrechen an Zwangsarbeiterinnen und -arbeitern der HASAG in Skarzysko-Kamienna eröffnet. Am 24. Mai 1949 folgte der Tschenstochau-Prozess, zu dem sich auf dem Gelände ebenso wenig wie zu den vor Ort ausgebeuteten Zwangsarbeiterinnen und -arbeitern eine Erinnerungsspur finden lässt. 

Natur in der Spinnerei
Natur: Im Inneren der Spinnerei | Foto: Christiane Gundlach

Was auf der Spinnerei aber in den letzten Jahren entstanden ist – durch Menschen mit gesellschaftlichem und politischem Bewusstsein aus dem Kunst- und Galeriefeld wie ASPN-Galeristin Arne Linde oder Christian Seyde von der Galerie Kleindienst: der Verein Land in Sicht, der ländliche Initiativen in Sachsen in Demokratiearbeit finanziell unterstützt (siehe kreuzer 3/2020, 10/2024).

Und in zwanzig Jahren?

Was eigentlich sein Lieblingsplatz auf dem Gelände sei, fragen wir Bertram Schultze. Die Werkschauhalle, die gerade »zum Diamanten geschliffen« werde: Dank der neuen Fußbodenheizung könne es hier perspektivisch auch im Winter Ausstellungen und Veranstaltungen geben – die Halle also öfter vermietet werden und damit mehr Einnahmen generieren. Eine dauerhafte Vermietung der Werkschauhalle strebe man nicht an. Auch die kleine Gartenfläche zwischen Werkschauhalle und Halle 14 soll verändert werden, um bei allem Industriecharme auch Aufenthaltsqualität entstehen zu lassen. Der Ort sei seiner Meinung nach »bisher unter Wert« gelaufen.

Schultze sieht für die Spinnerei in zwanzig Jahren eine »Strahlkraft mit denselben Inhalten« wie heute. Hinsichtlich der weiteren Entwicklung des Geländes gelte es aber, »mehr mit der Zeit zu gehen als in den letzten zwanzig Jahren«. Die Verwaltung habe die Entwicklung auf dem Gelände »zu lange ohne Steuerung laufen gelassen«. Die Spinnereibesitzer wollen sich nicht ausruhen, aber auch keine Entwicklung zum »Nachteil des lebendigen Organismus« anstreben.

Die Mieten seien über die Jahre nicht gestiegen, sagt Schultze. Wobei sich die Einnahmen seit 15 Jahren nicht geändert hätten, obwohl nun fast die gesamte Fläche vermietet sei. Letztlich sei jenseits von ökonomischen Interessen die Spinnerei an sich unbezahlbar.

Arne Linde von ASPN wünscht der Spinnerei für die Zukunft »ein kleines bisschen mehr experimentellen Mut« in den Galerien und »mehr Selbstbewusstsein, um neue Wege zu gehen« und »nicht im luftleeren Raum zu agieren«.

An den großzügigen Orten für Kunst festzuhalten, betont Michael Arzt von der Halle 14, wenn er nach der Spinnerei in zwanzig Jahren befragt wird. Für die Zukunft wünscht sich Arzt, dass »Leipzig als Standort der bildenden Kunst mit Arbeitsräumen für alle Generationen an Kunstschaffenden erhalten bleibt – auch kulturpolitisch durchdacht, um die eigene Zukunftsfähigkeit nicht zu verlieren«.
 

> Spinnerei-Rundgang: 3.5., 11–20 Uhr, 4.5., 11–18 Uhr – mehr Infos zu den einzelnen Veranstaltungen finden Sie auf S. 64/65


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