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Politik

Kein Schlussstrich

Offener Prozess – ein Dokumentationszentrum zum NSU-Komplex eröffnete am Sonntag in Chemnitz

  Kein Schlussstrich | Offener Prozess – ein Dokumentationszentrum zum NSU-Komplex eröffnete am Sonntag in Chemnitz  Foto: Blick in die Ausstellung/Britt Schlehahn


In einer Vitrine liegt eine Polizeischirmmütze, in einer weiteren eine Uhr, deren Zeiger 13 Minuten vor Zehn anzeigen, den Todeszeitpunkt des ursprünglichen Besitzers – die Gegenstände sind Leihgaben von den Hinterbliebenen und jeweils einer und einem der zehn Menschen gewidmet, die zwischen 1998 und 2011 vom Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) ermordet wurden: Enver Șimșek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Tașköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yașar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubașik, Halit Yozgat und Michèle Kiesewetter.

Die Vitrinen stehen am Eingang des großen Raumes des am Sonntag eröffneten Dokumentationszentrums in der Chemnitzer Innenstadt. Hier wird nicht nur der Opfer des rechten Terrors gedacht, sondern nach den Hintergründen von strukturellen Rassismus und Rechtsextremismus gefragt, nach der Rolle des Staates und wie Alltagsorte zu Tatorten werden konnten, wie mit Erinnerungsorten umgegangen wird und welche Fragen nach dem NSU-Prozess noch unbeantwortet sind. Daher stammt auch die Bezeichnung »Offener Prozess – ein Dokumentationszentrum zum NSU-Komplex«, getragen von den Vereinen ASA-FF, RAA Sachsen und der Initiative Offene Gesellschaft und mit Mitteln des Bundes und des Landes finanziert.

Bereits 2021 eröffnete in Jena die Ausstellung »Offener Prozess« mit künstlerischen Arbeiten zum Thema und zur Aufarbeitung des rechten Terrors, die danach noch in anderen Stätten zu sehen war (siehe auch Kontinuitäten).

Dass in der europäischen Kulturhauptstadt ein Ort zur Aufarbeitung der rechten Strukturen eröffnet und kontinuierlich arbeitet, scheint mehr als zwingend angebracht, denn hier lebte das Trio Bönhardt, Mundlos und Zschäppe ungestört vor staatlichem Zugriff. In jenem Plattenviertel wurde im Oktober 2023 am Haus der Friedrich-Viertel-Straße 2 – zwanzig Straßenbahnminuten vom Zentrum entfernt – das Wandbild »In unserer Mitte« zur Erinnerung an die Opfer des NSU eröffnet. Auch darauf finden sich die Polizeimütze von Kiesewetter oder die Schlüssel von Mehmet Kubașik, die jetzt im Dokumentationszentrum zu sehen sind.


Kunstraum, Podcasts, Statistiken

Nun sind in der Mitte der Stadt in dem großen Raum künstlerische Arbeiten aus der Ausstellung »Offener Prozess« zu sehen – wie von Forensic Architecture »77sqm_9:26min«. Darin wird die Rolle des Verfassungsschützers Andreas Temme während des Mordes an Halit Yozgat am 6. April 2006 rekonstruiert mit all den Widersprüchlichkeiten. Diese konnten weder die Ermittlungsbehörden noch das Gericht beim Prozess, der 2013 in München gegen fünf Angeklagte begann und fünf Jahre dauerte, vollständig aufklären.

Andererseits können an zwei Audiostationen Podcasts zum NSU-Komplex angehört werden, in Büchern zum Themenfeld gelesen und in Ordnern zu den Untersuchungsausschüssen des Bundes, in Thüringen und Sachsen geblättert werden.

Dem stehen zwei Wandbilder gegenüber, die das Kuratorenteam entwarf. Eines stellt Zahlen seit Beginn der 1990er Jahre zu Ausländerfeindlichkeit und rechter Gewalt vor. Eine Liste nennt unter anderem die Todesopfer rechter Gewalt von 1991 bis 2018 – Leipzig ist dabei mit sieben Opfern am häufigsten vertreten. Auch die Zahl 58.500 Euro ist zu lesen – diese Summe stellte Sachsen für den Abriss des NSU-Verstecks in der Frühlingsstraße 26 in Zwickau zur Verfügung. Eine Entschädigung der Hinterbliebenen steht noch aus. 36 von 107 Personen, die im Verdacht stehen, dem NSU geholfen zu haben, stammen aus der Region Chemnitz, Zwickau und Erzgebirge.


Forderungen der Hinterbliebenen

Auf der anderen Seite sind die Auswirkungen auf die Familien der Opfer im Rahmen der rassistisch motivierten Untersuchungen in den Mordfällen dargestellt: Etwa Zeugenaussagen, in denen die Täter als Nazis beschrieben wurden, die dann aber keine Beachtung fanden. Oder wie die Angehörigen selbst als Verdächtige behandelt wurde. Die Hinterbliebenen formulierten zur Eröffnung des Dokumentationszentrums ihre zehn Forderungen nach einer vollständigen Aufarbeitung. An der Schaufensterscheibe können sie nachgelesen werden. Dort heißt es: »Alle Akten müssen uns Betroffenen sofort zugänglich gemacht werden.« An die aktuelle Bundesregierung appellieren sie, »das Versprechen von Angela Merkel einzulösen und ›alles zu tun, um die Morde aufzuklären.‹« Unterstützerinnen und Unterstützer des NSU sollten ermittelt und angeklagt werden. Außerdem fordern sie eine nachhaltige psychologische und unbürokratische Unterstützung für sich und, die staatliche Entschädigungslücke für Betroffene des NSU-Terrors zu schließen und eine angemessene finanzielle Entschädigung zu gewährleisten. Gleichzeitig solle mehr Förderung für Bildung und zivilgesellschaftliches Engagement gegen alltäglichen und institutionellen Rassismus bereitgestellt werden. An die Medien richten sie einen Appell, ihrer Verantwortung gerecht zu werden und sich insbesondere nicht an rassistischer Berichterstattung beteiligen. Bund und Länder sollten Rechtsextremismus, Rassismus und rechte Netzwerke konsequent bekämpfen und die für die Hinterbliebenen traumatisierenden Methoden von Polizei und Verfassungsschutz abgeschafft werden. Die Forderungen schließen mit den Worten: »Die Taten des NSU und unsere Opfer sollen nicht vergessen werden. In ihrem Andenken setzen wir unseren Kampf fort.«


Veranstaltungen

Zum Demokratiefestival Kosmos finden am 14. Juni um 15.30 Uhr und am 15. Juni um 11 Uhr öffentliche Führungen statt. Am 21. Juni lädt das Dokumentationszentrum zur Buchvorstellung »Das Ende rechter Räume. Zu Territorialisierungen der radikalen Rechten« um 19 Uhr ein. Jeden vierten Freitag im Monat findet von 18.30 bis 20.45 Uhr die Filmreihe »Im Fokus: Rechter Terror« statt.

Von Juni bis November gibt es zudem die Sammlungskampagne »Lebendiges Archiv«, das um Material und persönlichen Geschichten zur Erschließung und Aufarbeitung der gesellschaftlichen Dimension des NSU-Komplexes bittet.


> Offener Prozess – Das Dokumentationszentrum zum NSU-Komplex, Johannisplatz 8, 0911 Chemnitz, Öffnungszeiten: Mi/ Fr/ Sa/ So 10-17 Uhr, Do 11-17 Uhr

www.offener-prozess.de


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