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Filmkritik

Fassadenbruch

»Die Unsichtbare« zeigt eindringlich den Selbstfindungprozess einer jungen Frau

  Fassadenbruch | »Die Unsichtbare« zeigt eindringlich den Selbstfindungprozess einer jungen Frau

In seinem zweiten Film »Die Unsichtbare« ergründet Regisseur Christian Schwochow die seelischen Abgründe der Schauspielschülerin Fine.

»Sie sehen nur eine Hülle, eine hübsche glatte Hülle. Es gibt Risse in der Hülle. Kleine, feine Risse.« So lauten die ersten Sätze, die Fine (Stine Fischer Christensen) beim Casting am Theater vorsprechen muss. Die Risse in der Hülle will der bekannte Regisseur Kaspar Friedmann (Ulrich Noethen) in seiner neuen Inszenierung von »Camille«, die er an der Berliner Volksbühne mit einem rein studentischen Ensemble realisiert, deutlich zum Vorschein bringen. Deshalb hat er sich Fine für die Hauptrolle ausgesucht, obwohl die unsichere Schauspielschülerin genau das Gegenteil der hedonistischen Camille ist. »Du bist unsichtbar« hat der Schulleiter (Ulrich Matthes) noch vor kurzem zu ihr gesagt, nachdem sie auf der Bühne ihren Einsatz verpasst hat. Ein Todesurteil für eine angehende Schauspielerin und gleichzeitig ein Problem, das Fine seit frühester Kindheit quält. Zu Hause stand immer ihre jüngere, schwer geistig behinderte Schwester im Mittelpunkt. Nachdem der Vater die Familie verlassen hatte, wurde die große Schwester von der verbitterten Mutter (Dagmar Manzel) noch stärker in die Pflicht genommen.

Friedmann erkennt die Risse in Fines Seele und er will sie für sich und seine Inszenierung nutzbar machen. Er beherrscht die Kunst der Manipulation und treibt seine Hauptdarstellerin immer mehr in die Enge, um ihre verborgenen Emotionen herauszuarbeiten. Nachts streift Fine verkleidet als platinblonde Camille durch Berlin und übt sich als Verführerin. Dabei erweisen sich Theaterdialoge wie »Sex ist für mich wie Kuchenessen« oder »Mein Vater hat mich vergewaltigt, als ich vier war« beim ersten Flirt nicht immer als hilfreich. Trotzdem lässt sich ein netter Tunnelbauer aus dem Haus gegenüber mit aller Vorsicht auf eine Affäre ein. Aber nicht nur in der Liebe werden die extremen Erfahrungen auf der Probebühne zur psychologischen Initialzündung, sondern auch zu Hause in der Familie sucht Fine die direkte Konfrontation und spielt sich in ihrem eigenen Leben an den Rand des Abgrunds.

Wie schon in seinem Regiedebüt »Novemberkind« erzählt Christian Schwochow auch in »Die Unsichtbare« vom hindernisreichen Selbstfindungsprozess einer jungen Frau. Allerdings geht er hier nicht mit den Mitteln des gefälligen Roadmovies auf Spurensuche, sondern siedelt sein Psychodrama im Theatermilieu an, in dem sich Lebenserfahrung und Kunstproduktion ineinander verschränken und gegenseitig spiegeln. Als Katalysator dient auch hier wieder eine Männerfigur von zweifelhafter moralischer Güte. In »Novemberkind« spielte Ulrich Matthes einen Schriftsteller, der das Schicksal der Protagonistin künstlerisch ausschlachtete. In »Die Unsichtbare« gibt der fabelhafte Ulrich Noethen den Regieberserker, der seine Hauptdarstellerin für die hohe Kunst in die Verzweiflung treibt. Die Rolle, die schon von weitem nach Klischee riecht, lotet Noethen differenziert aus und lässt hinter dem Zerstörer immer auch den Zerstörten erkennen. Die dänische Schauspielerin Stine Fischer Christensen vermittelt äußerst glaubwürdig und nuancenreich die Wandlung ihrer Figur von der ewigen Randexistenz zur sich ihrer selbst vergewisserten Künstlerin.


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